Ein Beuys-ABC –– destilliert aus Neuerscheinungen zu seinem 100. Geburtstag

 

ANTHROPOSOPHIE »Mythenbilder mit Hut – Vor 100 Jahren wurde der esoterische Künstler und Rudolf-Steiner-Adept Joseph Beuys geboren« lautete eine Überschrift der Tageszeitung junge Welt vom 12. Mai 2021. Beuys, so schreibt Rüdiger Sünner in seiner Spurensuche Zeige deine Wunde – Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys (Europa-Verlag, Jubiläumsausgabe 2021) sei in das »Resonanzfeld« Anthroposophie eingetaucht. Wie tief die Anregungen des Anthroposophen-Gurus Rudolf Steiner gewesen sei, bezeuge ein Brief an den Anthroposophen Manfred Schradi: »(…) Die große Leistung Steiners ist es gewesen, gar nichts ›erfunden‹ zu haben, sondern nur! aus der unendlich gesteigerten Wahrnehmung heraus vorgetragen zu haben, was des Menschen höhere Sehnsucht ist, wenn er es auch noch nicht weiß…« Der Beuys-Biograph HP Riegel, auf dessen Ausführungen sich der junge-Welt-Artikel im wesentlichen stützt, erklärte im Spiegel hierzu: »Beuys gilt als Universalgenie, als unglaublich originell und originär. Das war er nicht. In Wahrheit sah er sich als von Steiner beauftragt, dessen Weltanschauung zur Geltung zu verhelfen. Das hat Beuys selbst niedergeschrieben.«1 Zum Beuys-Begriff »Soziale Plastik« behauptet Riegel kühn, Beuys habe damit gemeint,  »jeder solle schön an seinem Platz bleiben, jeder sollte an der neuen, anthroposophisch determinierten Gesellschaft mitarbeiten – und die ist eben das Kunstwerk.«2 Beuys‘ Steiner-Spleen ist nicht zu leugnen, er besaß laut Sünner an die 100 Bände von Steiner. Lässt aber ein von Steiner »Beauftragter« ein rosafarbenes Anthroposophie-Bändchen, das weihevolle Worte enthält, neben Motoren und alten Käsebroten im Müll liegen, wie Beuys es tat? (vgl. Sünner, S. 53) Die Bemerkung von Beuys, die Mysterien fänden heute nicht mehr im Anthroposophen-Heiligtum Goetheaneum im schweizerischen Dornach, sondern im Hauptbahnhof statt, haben die Steiner-Jünger nicht goutiert. Und macht sich ein »Beauftragter« über die Steiner-Ideen lustig oder karikiert sie, wie es der Künstler Klaus Staeck von Beuys überliefert? (vgl. Sünner, S. 175). Tobia Bezzola hat einst formuliert, Beuys habe Steiner um ein paar enorm plastische Kapitel verlängert, dies, indem er ihn in der Weise adaptierte, dass die Kunst, als das Urplastische und Urkreative, zum Mittel der Transformation der sozialen und planetarischen Substanz werden sollte.3

AUSCHWITZ In der Ausstellung »Joseph Beuys und die Schamanen« im Museum Schloss Moyland (bis 28.08.2021; → SCHAMANISMUS) ist u. a. eine Zeichnung mit dem Titel »kranker Mann« von 1956 zu sehen, die als Selbstbildnis gedeutet werden kann (s. Katalog Joseph Beuys und die Schamanen, S. 154). In der zweiten Hälfte der 1950-Jahre habe Beuys, so einige Interpreten, eine persönliche Krise durchlebt, die über eine tiefe, spirituelle Erschütterung zu einer Veränderung seiner Kunst geführt habe. Der unmittelbare Auslöser für den »krisenhaften Ausnahmezustand, der über mehrere Jahre andauerte, sei – so schreibt der Filmemacher Andres Veiel in der Zeit  »die Beschäftigung mit dem Tagebuch der Anne Frank gewesen.«4 Dies hätten ihm Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter berichtet. »Beuys lebte isoliert in seinem kleinen Düsseldorfer Atelier, Freunde brachten ihm Essen. Bei einem der Besuche, so erinnerte sich die damalige Freundin Sonja Mataré, bat Beuys darum, dass ihm das Tagebuch der ermordeten Jüdin mitgebracht würde. Mataré erzählte von einer dramatischen Verschlechterung seines Zustandes nach der Lektüre.«5

Im Katalog zur Ausstellung im Düsseldorfer K20 »Jeder Mensch ist ein Künstler – Kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys« (bis 15.08.2021; der von Susanne Gaensheimer, Isabelle Mal, Catherine Nichols und Eugen Blume herausgegebene Katalog erschien bei HatjeCantz; → JEDER MENSCH IST EIN KÜNSTLER) heißt es, Beuys habe mithilfe von Zeichnungen schamanische Hilfsgeister (→ SCHAMANISMUS) um Rettung aus seiner depressiven Isolation gebeten. In seinem Buch Joseph Beuys –- Kunst Kapital Revolution (C. H. Beck, 2021) nähert sich Philip Ursprung in 24 Tableaus dem Œuvre von Beuys. Er sieht die Veränderung der Kunst von Beuys Ende der 1950-er Jahre als Resultat seiner Auseinandersetzung mit dem Holocaust anlässlich des Entwurfs für ein Auschwitz-Denkmal, »als wenn sich der Kreis zu der Lektüre des Tagebuch der Anne Frank schließt.«6 An dem im Juli 1957 ausgeschriebenen Wettbewerb für ein internationales Auschwitz-Denkmal nahm Beuys 1958 teil. Beuys wandte sich dabei von den traditionellen Elementen der Monumentalskulptur ab: »Das Monolithische ersetzte er durch das Fragmentarische, das betont Dauerhafte durch das Vergängliche, das Geschlossene durch das Offene, das Harte durch das Weiche.« (Ursprung. S. 48) »Auch nachdem sein Beitrag nicht ausgewählt wurde, setzte er sich weiter mit dem Vernichtungslager auseinander. Mehrere Jahre arbeitete er an der Installation ›Auschwitz-Demonstration‹ (…), die heute im Landesmuseum Darmstadt [→ DARMSTADT] ausgestellt ist. Er selbst bemerkte in einem späteren Interview, dass der Schrecken dieser Katastrophe nicht abbildbar sei. Es könne ihm deshalb nur um eine Transformierung dieses Schreckens gehen.«7 Veiel bezieht sich hier wohl auf ein Gespräch von Beuys mit Helmut Rywelsky im Jahre 1970, in dem Beuys erklärte, es sei nicht sein Interesse, Katastrophen abzubilden, sondern zu deren Überwindung müsse etwas »abschießen – wie eine Art Substanz – etwas anderes…« Nachlesen lässt sich der Inhalt dieses Gesprächs in der von Wolfgang Storch edierten feinen Textsammlung Joseph Beuys. Hiermit trete ich aus der Kunst aus. Vorträge, Aufzeichnungen, Gespräche (Edition Nautilus, 2021, S. 56 ff.).

Joseph Beuys, Belfast, 1975 (Sammlung Schneider)

BELFAST Beuys reiste 1974 nach Irland, da ihm die Nutzung des Royal Hospital Kilmainham in Dublin als Sitz der geplanten Free International University (FIU) in Aussicht gestellt worden war, bei deren Konzeption bereits von einem Europa ohne Grenzen die Rede war. Beuys hielt Vorträge in Dublin, Cork, Limerick, in Derry und in Coleraine. Von diesem Universitätsort im Nordosten Nordirlands ist es nicht weit ist bis zum Giant’s Causeway, den Beuys besuchte und dessen Basaltstelen dann bei »7000 Eichen« (→ EICHEN) und dem Werk »Das Ende des 20. Jahrhunderts« aufscheinen sollten. Beuys war überzeugt, eine permanente Konferenz zur Lösung der euphemistisch »Troubles« genannten Ereignisse in Nordirland in Gang setzen und »helfen« zu können. Von einem Treffen in Belfast, dem »Gehirn Europas« (Beuys), berichtet die von Ursprung zitierte Caroline Tisdall, die Beuys in Irland begleitete: »Old Protestant Woman to Beuys: ›From Germany? They’re all here – Japs, Germans – all pickin‘ Ulster’s bones, picking the carcass. God help this country.‹ Beuys: ›We all could help‹. Old woman: ›Help? You don’t understand the situation at all.‹« (Ursprung, S. 197)

COYOTE In ihrem Buch Joseph Beuys: Coyote von 1976 beschreibt Caroline Tisdall die Aktion »I like America and America likes Me« in der Galerie von René Block in New York. 1974 flog Beuys nach New York, ließ sich am Flughafen in eine Filzdecke wickeln (→ FILZ) und in die Galerie fahren, wo er drei Tage lang mit einem Coyoten namens Little John interagierte. Die Coyote-Aktion – so Philip Ursprung – sei die einzige von Beuys, »die zu seinen Lebzeiten mit einer Monographie dokumentiert wurde«. (Ursprung, S. 179) Ursprung irrt. Zu Beuys‘ Lebzeiten erschien auch die fotografische Dokumentation einer Aktion von 1973, bei der es im Kern um die Freiheit der Kunst ging und für die Beuys seinem Meisterschüler Volker Wilczek nach dessen Konzeption als Darsteller gedient hatte – ein für Beuys einmaliges Vorgehen. Unter dem Titel Entfernter Schauplatz erschien sie 1980 in einer Auflage von 1.000 Exemplaren, wovon 100 von Wilczek und Beuys signiert wurden. Dieses Werk, obwohl streng genommen eines von Volker Wilczek, wurde als Beuys-Multiple Nr. 364 in das Schellmann-Verzeichnis aufgenommen. Es wird von den Beuys-Experten ebenso geflissentlich ignoriert wie Mitte der 1990-er Jahre die Ausstellung der Fotografien durch die galerie caoc in Zusammenarbeit mit front•art in Berlin von den Beuys-Jüngern mit Ignoranz bedacht wurde. Die Ausstellung der Fotos in Derry würdigte die irische Kunstkritikerin Dorothy Walker, die Beuys einst auf das Kilmainham Hospital in Dublin als möglichen Ort für die Free International University aufmerksam gemacht hatte. (→ BELFAST)

DARMSTADT Im 2. Stock des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt befindet sich der Block Beuys, »ein kunsthistorische Glücksfall. Knapp fünfzigjährig ergriff Beuys 1970 die Chance, einen umfassenden Teil des eigenen Werkes seit den 1940-er Jahren dauerhaft einzurichten. Gut 300 Installationen, Skulpturen und Zeichnungen aus früheren Ausstellungen, daneben auch Zeichnungen und Objekte aus Aktionen, fanden in sieben Sälen ihren permanenten Ort. Seit seinem Tod ist lediglich die Wandbespannung der Ausstellungsräume im Rahmen der Sanierung des Museums entfernt worden. (…) Ich könnte mir keine bessere Umgebung für eine derartige Sammlung vorstellen als das Darmstädter Universalmuseum. Die dichte Anordnung der Werke und die kühne Gegenüberstellung von monumentalen Environments in hohen Sälen und winzigen Objekten in aufgereihten Vitrinen setzt die Struktur der Kunst- und Wunderkammer der darunterliegenden Etagen fort. Bereits der Titel Block Beuys macht deutlich, dass die Sammlung als Teil eines größeren Ganzen fungiert. Ihr Rahmen ist nicht die Kunst alleine, sondern auch die Natur und die Geschichte.« (Ursprung, S. 39/40). Ursprungs Hauptinteresse galt der Vitrine »Auschwitz-Demonstration« (1956-1964). »Wenn wir davon ausgehen, dass die anhaltende Wirkung der Kunst Beuys‘ darauf beruht, dass sie Betrachter mit Tabus konfrontiert, ungelöste Probleme sichtbar macht, dann ist die Frage, wie sich die Beziehung seiner Kunst zum Holocaust verhielt – und veränderte –, zentral.« (Ursprung, S. 40) »Die Objekte in der Vitrine«, so Ursprung, »spannen ein Netz von Assoziationen auf. Sie deuten auf etwas hin – im Sinne des Demonstrierens und Aufzeigens –, ohne es zu definieren.« (Ursprung, S. 44) Während in dem eingangs zitierten Artikel der jungen Welt in diesem Zusammenhang von »Geschichtsklitterung« die Rede ist, schreibt Sünner: »Beuys‘ Beschäftigung mit Krieg, Diktatur, Gewalt, dem Holocaust und der deutschen Katastrophe wirkt in den nicht verbalen Schichten seiner Werke nach. Dort, im Visuellen, Atmosphärischen, Unterschwelligen haust das Unbeschreibbare, eben nicht in Wort zu Fassende, das zu umkreisen die eigentliche Aufgabe des Künstlers ist.« (Sünner, S. 110)

DDR Unter der Überschrift ›Wo ist Joseph Beuys? Eine Verschwörungstheorie‹ schildert der in Bitterfeld geborene Kurator Eugen Blume in dem von Volker Schäfer herausgegebenen Sammelband BEUYS 100 (euregioverlag, 2020), wie er in der DDR Mitte der 1970-er Jahre Beuys entdeckte, der für ihn »ein staatenloser Rebell« war und zu den von ihm verehrten »Helden der Rockmusik« gehörte, »Mitglied einer Bewegung, in der performative Rockmusik und die weltweiten Studentenrevolten und Antikriegshaltungen eine revolutionäre, nie dagewesene Massenkultur etablierten, die auch für uns inmitten einer diktatorisch geführten Gesellschaft die Freiheit und eine echte Solidarität unter Gleichgesinnten versprach.«

EICHEN Als 1981 der Informationsdienst der documenta 7 die »Aktion 7000 Eichen« von Beuys ankündigte, wurde in dem Springer-Blatt Die Welt der zukunftsweisende Charakter des Werkes bezweifelt, da in ihm Eichen – »Deutsche Eichen gar?« – verwendet werden sollten. Es wurden dann zwischen 1982 und 1987 in Kassel und in einigen nordhessischen Gemeinden und anderswo nicht nur Eichen gepflanzt, sondern u. a. auch Eschen, Platanen, Linden, Kastanien oder Gingko-Bäume. Beuys pflanzte Bäume nicht, weil Bäume schön sind, »sondern weil die Bäume heute ja viel intelligenter als die Menschen sind«. Rüdiger Sünner stellt in Zeige deine Wunde die Beuys’sche Baumpflanzaktion in den Zusammenhang mit dem heiligen Baumkult der Druiden in Irland. Sünner wollte das Beuys-Projekt wohl keinesfalls als Fortsetzung des deutsch-patriotischen Eichenkults gesehen wissen und tappte in die »Keltenkacke« (Bert Papenfuß). Es gibt keinen Beweis dafür, dass der Eiche in Irland eine einzigartige Bedeutung zukam.8 Laut dem vermutlich im 9. Jahrhundert entstandenen und im 11. Jahrhundert kompilierten Book of Invasions (Lebor Gabála Érenn) war die heilige Eiche von Mugna, die neben Eicheln auch Äpfel und Nüsse trug, einer von fünf verschiedenen heiligen Bäumen. Sie stand vermutlich im Süden der Grafschaft Kildare. Der Ortsname bedeutet Kirche oder Zelle der Eiche. Dort entstand das Kloster der hl. Brigid. »In Irland war die Eibe wichtiger als die Eiche, trotz der großen Verehrung, die ihr der hl. Columcille noch im 6. Jh. entgegenbrachte.«9 Der bevorzugte den Ort Doire Calgach, Calgachs Eichenhain (heute: London-/Derry), und »unterschied sich von den vorchristlichen Kelten nur dadurch, dass er das Göttliche schlechthin, nicht einen bestimmten Gott, in der Eiche verehrte.«10 

In BEUYS 100 schert sich Harald Kimpel, Mitarbeiter des documenta Archivs, nicht um die Frage deutsche Eiche oder nicht, sondern stellt die 7.000 Eichen und die 7.000 Steine in den Kontext anderer künstlerischer Baum-Werke oder Pflanzaktionen. Letzteren. so Kimpel, fehle das »STATT, das orts- und zeitübergreifende Widerstandspotential.« Einzig die Kasseler Stadtverwaldung von Beuys weise keine zeitlichen oder räumlichen Konturen auf, sondern sei in ihrer Gesamtstruktur unfassbar, da sie andauernd den gängigen Vorstellungen von der ästhetischen Verfassung und der Wirkungsweise eines künstlerischen Objekts entwandere. 

FILZ Das Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, in dem derzeit die Ausstellung »Kunst = Mensch – Joseph Beuys in Krefeld« zu sehen ist (bis 01.08.2021) kann sich rühmen, mit »Barraque D’Dull Odde« über ein von Beuys selbst als »Raum-Gesamtanlage« (Johannes Stüttgen) aufgebautes Werk zu verfügen. Teil dieses Werkkomplexes ist die Arbeit »Fond IV/4«. Sie ist fast sieben Meter lang und besteht aus neun in einer Achse ausgelegten und aneinandergefügten Stapeln von jeweils 90 Filzplatten, auf denen eine Eisenplatte ruht. Der vordere der in den Raum ragenden Stapel wird aus 46 Eisenplatten (unten) und 54 Kupferplatten gebildet und ist etwas höher als die anderen Stapel. Bereits bei »Fond I«, einer Arbeit, die Teil des Block Beuys in Darmstadt ist (→ DARMSTADT), wird ein Hauptcharakteristikum der späteren Fond-Arbeiten deutlich: nämlich das, als Energiespeicher zu fungieren. »Fond I« besteht aus einem Weckglas, in dem sich von Beuys‘ Mutter eingemachte Birnen befinden. »Der Speichercharakter von Fond IV/4 ist ein substanzieller Akt, der vom Kern oder Grund der Sache – und das heißt hier der Stoffe – ausgeht.«11 Philip Ursprung kennt diese Zusammenhänge, wartet aber mit einer eigenen Interpretation von »Fond IV/4« auf: »Fond IV/4 war ein Zug, der aus der Wand herausdonnert.« 

DIE GRÜNEN Das Engagement von Beuys für Die Grünen ist ebenso bekannt wie die »völkischen Haltungen« einiger der an der Gründung der Grünen beteiligten Personen. (Ursprung, S. 249 ff.)  Als die Grünen 1983 samt ihrem parlamentarischen Geschäftsführer Joschka Fischer in den Bundestag einzogen, hatte Beuys keinen Spitzenplatz auf der Liste erhalten, die Partei ließ den Künstler und Friedensaktivisten fallen, der 1982 gesungen hatte: »Wir wollen Sonne statt Reagan, ohne Rüstung leben (…) Kalten Kriegern die Pest.« (https://youtu.be/q1ugBlAxbF4) 

Laut Ursprung, der sich auf Tony Judts Geschichte Europas beruft, habe der Erfolg der Grünen darin bestanden, dass Anhänger sowohl von rechts als auch von links gekommen seien. (Ursprung, S. 252) Noch 1995 hatte ein Parteitag der Grünen für den Austritt aus der NATO gestimmt und das nicht zum ersten Mal. Als die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright im Herbst 1998 Joschka Fischer als grünen Außenminister aus dem Kabinett des SPD-Kanzlers Schröder erstmals traf, ermahnte sie ihn, seine Partei möge vom kritischen Verhältnis zur westlichen Allianz abrücken. Was prompt geschah. Die Grünen parierten so bedingungs- und prinzipienlos, dass dabei der Segen für eine völkerrechtswidrige NATO-Intervention gegen Serbien abfiel. Beuys konnte also froh sein, dass er von den Grünen fallengelassen wurde, die sich in Legitimitätsrhetorik der Gewalt und des NATO-Bombardements ergingen und noch heute als »Neoliberale mit Fahrrad« (Jacobin, 19.05.2021) fest zur Kriegsmaschinerie der NATO stehen. 

HONIGPUMPE Aus dem von Aloys Wilmsen herausgegebenen Buch Bienenfleiß – Joseph Beuys und die Honigpumpe aus dem Allgäu auf der documenta 6 1997 (Verlag Galerie Wilmsen, 2021) erfahren wir, wie 1977 Ingenieure der Pumpenfabrik Wangen mit Beuys die »Honigpumpe am Arbeitsplatz« aufbauten, die quasi als Kulisse für die 100-tägige Diskussion der von Beuys ins Leben gerufenen Free International University diente und in der Ursprung ein »Monument für den Übergang von der Industriearbeit zur immateriellen Arbeit« sieht. (Ursprung, S. 224 ff.) Laut Sünner vermittelte die Honigpumpe »Wärme und Farbe, löste Staunen aus und wirkte wie eine Art Frischzellenkur«. (Sünner, S. 90/91)

Aloys Wilmsen, damals Verkaufsleiter der Pumpenfabrik, fädelte den Deal mit Beuys ein, während seine Ingenieure Anton Kaiser und Karl Zotter zwei Wochen lang in Kassel mit Beuys arbeiteten, wobei sie seine künstlerischen Intentionen aufnahmen, und er das Knowhow der Pumpenexperten zu schätzen lernte, bis schließlich 108 Kilo Langnese-Honig durch die Schläuche flossen. Beuys erklärte zur Honigpumpe: »Das ganze Gebilde wird erst vervollständig durch die Menschen im Raum, um den die Honigarterie herumfließt…« (Bienenfleiß, S. 48) Und an anderer Stelle: »Die eigentliche Honigpumpe ist das Arbeitskollektiv« (Jeder Mensch ist ein Künstler, S. 170)

INTUITION »Der Begriff Intuition«, so Beuys, »ist nichts Anderes als was wir unter Denken verstanden haben. Seine höhere Form, Intuition, ist, wenn man es konsequent durchdenkt, auch wenn man es erfährt, indem man sich immer wieder intensiv mit dem Denken selbst befasst, nichts anderes als die höhere Form des Denkens.« Dieses Zitat findet sich in dem Buch Joseph Beuys – Intuition 1968. Entstehungsgeschichte, Interpretation und Variationen eines Multiples von Hartmut Kraft (Verlag Kettler, 2021). Bei dem Multiple »Intuition« von Joseph Beuys, das ab 1968 verbreitet wurde, handelt es sich um einen einfachen, vorne offenen Holzkasten. Per Hand hat er das Wort »Intuition« und zwei Bleistiftstriche in jedes Exemplar gebracht. Mit einer Auflage von ca. 12.000 Exemplaren ist es das am häufigste produzierte unter den 557 Multiples von Beuys. In der Kiste, so der im Buch zitierte Kunsthistoriker Uwe Rüth, sei Beuys‘ Intuition zur ›Intuition‹ objektiviert. Kraft widmet sich en gros und en detail der Entstehung und Verbreitung des Holzkastens und widmet sich im Anhang auch den »(leeren) Kisten« als plastisches Thema bei Beuys. 

JEDER MENSCH IST EIN KÜNSTLER – KOSMOPOLITISCHE ÜBUNGEN MIT JOSEPH BEUYS heißt eine Ausstellung im Düsseldorfer K20 (bis 15.08.2021). In der Zeitschrift Konkret (5/2021) zeigte sich Martin Knepper begeistert von der Show. Er schreibt, es sei »ein geschickter Move des rheinischen Roms der Beuys-Verehrung, ihn in einer Ausstellung in Bezug zu zeitgenössischen Positionen in der Kunst wie auch der aktivistischen Arbeit zu setzen«. Es ist eine merkwürdige Auffassung von Aktivismus, wenn der vor allem in Gestalt einiger Promis per Video vorgeführt wird, wie etwa Angela Davis, Bob Dylan, Patti Smith, Greta Thunberg oder der Meister dystopischen Geraunes, Michel Houellebecq. Einen Besuch ist die Ausstellung allemal wert, denn es sind einige Film zu sehen, in den Beuys in Aktion zu erleben ist: Transsibirische Bahn; Boxkampf für direkte Demokratie; öö Programm; wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt; EURASIENSTAB; Dillinger; Honigpumpe am Arbeitsplatz; I like America and America likes me; Coyote III.

Im Katalog führt der chinesische Wissenschaftler, Künstler und Kurator Ou Ning unter der Überschrift ‚Schwarmintelligenz und Soziale Plastik‘ aus: »Beuys hat behauptet, ›Jeder Mensch ist ein Künstler‹, weil er einerseits von Romantikern wie Novalis und Schiller beeinflusst war und glaubte, dass der Mensch allgemein kreativ wäre. Andererseits war er überzeugt davon, dass die Kunst das Potenzial besitze, revolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken, während die Macht der Institutionen eine Einschränkung der Kunst darstelle.«

Der Kurator Eugen Blume schreibt unter der Überschrift ‚Schamanen‘ zunächst, weder Beuys noch Greta Thunberg (von der nicht bekannt ist, ob sie überhaupt jemals den Namen Beuys gehört hat), seien im eigentlichen Sinn noch in einem modisch-esoterischen Sinne Schamanen. (→ SCHAMANISMUS) Nur um ein paar Seiten weiter zu konstatieren, Beuys habe die Rolle des Schamanen für die nächsten Generationen übernommen, zum Beispiel für Greta Thunberg. In gewisser Weise ist er also doch als Schamane anzusehen, so wie ein Schauspieler, der die Rolle des Hamlet übernimmt, auf der Bühne dieser Hamlet ist. Über Schamanen und Schamanismus erfährt die Leserschaft wenig in dieser kosmopolitischen Übung von Blume.

LYNEN, ADAM REINHARD In der von der Stadt Krefeld, dem Geburtsort von Beuys, herausgegebenen Broschüre beuys IN KREFELD findet sich ein kurzer Text von Dirk Senger über die Freundschaft zwischen Adam Reinhard Lynen und Beuys. Diese Freundschaft begann laut einem Notizzettel von Beuys vom September 1961 in den Jahren 1947-1949. Der 1923 geborene Dichter Lynen wohnte bis Mitte der 1960-er Jahre im Kullhaus, einer – so Senger – nicht mehr lokalisierbaren Hütte an den Niepkuhlen, einem Altrheinarm bei Krefeld. Beuys lebte dort einige Zeit mit Lynen zusammen und notiert in seinem ›LebensLauf Werklauf‹: »1948 Krefeld Ausstellung ›Kullhaus‹ (zusammen mit A. R. Lynen).« Lynens einziges veröffentlichtes Buch Kentaurenfährte –- Logbuch eines Vagabunden erschien 1963 bei Kindler. Darin enthalten ist etwa das Fußlappen-Lied, in dem es heißt: »Und so zog ich in meiner Fußlappen-Zeit / Mit Gauklern und Karawanen, / Nomaden, Jäger –– und Bauern nie –– / Sind der triebhafte Stamm meiner Ahnen. / Ich meide die Deutschen. Ich mag sie nicht. / Ich mein: jede Art von Katheder…« An der Vorbereitung der Veröffentlichung war Beuys beteiligt. »Lynen« – so der Beuys-Biograph HP Riegel – »kann als wesentlicher Impulsgeber für die literarische Bildung von Beuys sowie für dessen Motivik gesehen werden.«11 Der Beuys-Sekretär Stüttgen schreibt: »Zu Lynens schriftstellerischer Arbeit hatte Beuys die innigste Beziehung, er nannte den Freund ›Deutschlands letzten Dichter‹, dies mit Hochachtung und nicht ohne Wehmut und mit einem Seitenblick auf den Zustand der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur unter der Wortführerschaft der Gruppe 47, für die er nur Verachtung übrig hatte.«

Der 3000-seitige Nachlass des »Poeten vom Kullufer« (Senger), Theaterstücke, Gedichte, Aphorismen, Reisebeschreibungen, wird derzeit von seinem Bekannten Ernst Föll katalogisiert. Seiner Frau Ruth hatte Lynen über seinen Nachlass gesagt: »Wenn dech dat Zeuch ze völl wett, halt e Streichholz dran.«

MOOR In der Ausstellung im Düsseldorfer K20 sind Fotos von Beuys während seiner »Aktion im Moor« bei Eindhoven im Jahre 1971 zu sehen. Im Katalog heißt es dazu: »In seinem Lauf über das Wasser im Moor erinnerte Beuys an die nachösterliche Dichtung über die Naturwunder Jesu.« Beuys ist zwar im Moorwasser auch geschwommen und in der sumpfigen Brühe gewatet, aber das ist offenbar zu profan, es muss der Heiland aufgerufen werden. Wer denkt bei Moor nicht an die Beuys’sche Metallskulptur »Grauballemann« (1954-1958), die Teil des Block Beuys ist (→ DARMSTADT)? Sie bezieht sich auf die »Grauballemann« getaufte Moorleiche, die 1952 im Nebelgårds Mose, einem Kesselmoor in Grauballe nordöstlich von Silkeborg in Dänemark gefunden wurde. Es ließen sich auch die »Irische(n) Energien« (1974) anführen, für die Beuys Butter zwischen aufgeschnittene irische Torfbriketts presste, die ihre Existenz dem Moor verdanken. Beuys war »fasziniert von Torf, (…) unter einem erdgeschichtlichen und ökologischen Aspekt« (Ursprung, 195). Zu dem, was Beuys das Christentum bedeutete »für die Transformation der Menschheit hin zum Geist«, hat sich Beuys 1979 im Gespräch mit Louwrien Wijers geäußert (Hiermit trete ich aus der Kunst aus, S. 129 ff.)

NEAPEL In Heilbronn war 2016 die Nachempfindung der 1981 in Neapel gezeigten Installation »Terremoto in Palazzo« zu sehen, mit dem Beuys das Erdbeben vom November 1980 thematisierte, das Irpinia und die umliegende Bergregion von Neapel verwüstete. In einem von der neapolitanischen Lokalzeitung Il Mattino abgelehnten Text vom 16. April 1981 hatte Beuys formuliert: »Aus Palästen kann keine Hilfe für die Menschen kommen, nur noch die weitere Ausbreitung der Todeszone auch für die Natur.« ›Joseph Beuys in Süditalien – Eine Nachricht aus Caltabellotto‹ ist der Text von Petra Richter im Buch BEUYS 100 überschrieben. Richter zitiert eingangs Beuys Aussagen über seine Arbeiten in Italien: »Alle Arbeiten, die ich in Italien gemacht habe, beziehen sich auf Italien, d. h. auf den Zustand der Menschen in Italien, auch vor allem in Bezug auf die weltpolitische Lage, ganz speziell beziehen sie sich auf die Problematik des Mezzogiorno.« Richter beschreibt die öffentlichen Arbeiten von Beuys in Italien, die 1981 in Rom mit der Aktionsskulptur »Terremoto« begannen. Der Verkaufserlös der Arbeit sollte der vom Aus bedrohten linken Zeitung Lotta Continua zugute kommen, mit deren Redaktionsmitgliedern Beuys seit Beginn der 1970-er Jahre freundschaftlich verbunden war. 

Auch nach seiner Ausstellung in Neapel trieben Beuys Erdbebenfolgen um. Weihnachten 1981 reiste er in die Stadt Gibellina im Valle del Belice im Südwesten Siziliens, die im Januar 1968 durch ein Erdbeben völlig zerstört worden war. Der einst ertragreiche Boden war ausgetrocknet, der Ort von einer öden Landschaft umgeben. Beuys‘ Vorschlag, die Kuppeln Siziliens zu bepflanzen, wurde anders als die Stadtverwaldung Kassels (→ EICHEN) nicht umgesetzt. 

Über das Multiple »Capri-Batterie«, vom todkranken Beuys 1985 auf Capri konzipiert und zu sehen in der Ausstellung »Joseph Beuys – Perpetual Motion« im Skulpturenpark zu Wuppertal (bis 20.06.2021), schreibt Reinhard Ermen im Kunstforum (Bd. 274). Ursprung widmet sich unter der Unterüberschrift ›Beuys in Italien‹ vor allem der Bedeutung des noi (wir) der Edition »La rivoluzione siamo noi« von 1982: »Beuys geht als unbewaffneter Einzelkämpfer los und beansprucht nichts Geringeres als die Revolution.« (Ursprung, S. 144)

OBDACHLOSIGKEIT, der erweiterte Kunstbegriff und die Soziale Plastik lautete die Coverzeile der Düsseldorfer Wohnungslosenzeitung fiftyfifty vom Mai 2021 zum 100sten von Joseph Beuys. Die Zeitung wies auf eine Ausstellung mit dem Titel »Aber der Mensch ist die Lösung« (Beuys) hin, bei der Grafiken, Plakate und Multiples von Beuys aus der Edition Staeck zu sehen waren. Die Werke wurden zugunsten der Obdachlosenhilfe verkauft. Im Aufmacher von Hubert Ostendorf heißt es: »›Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen‹, lautet eines der bekanntesten Zitate des vor 35 Jahren gestorbenen und bis heute von vielen verehrten Visionärs Beuys. Und auch das: ›Das Kunstwerk ist das allergrößte Rätsel, aber der Mensch ist die Lösung.‹ Was, um es hinzuzufügen, sicher auch für die Überwindung der Obdachlosigkeit gilt.«

PORTRÄTS in schwarz-weiß von Beuys, Fotos von Beuys in Aktion, mit seinen Studenten an der Kunstakademie in Düsseldorf, beim Boxkampf und vom kreativen Chaos im Atelier des Meisters bietet der großformatige Band Beuys bleibt – Beuys A Close-Up von Michael Ruetz (éditions facteur cheval, 2021). Die Fotos entstanden explizit für die Nachwelt, wobei einige von ihnen von Beuys verwendet wurden, etwa für sein »Arena«-Projekt. Das Arbeitsziel von Ruetz bestand eigenen Aussagen nach im Erkunden des eigentlichen Zeitgenossen hinter dem allzu bekannten, erschöpfend publizierten Beuys. Besonders gelungen ist das Foto eines auf einer Tischkante in sich zusammengesunkenen, nachdenklichen Beuys. Ein Küchenfoto zeigt, dass Beuys auch beim Kochen seinen Hut nicht abnahm. 

»RUDEL« (englisch »The Pack«) heißt ein Beuys-Werk von 1969, das Ende 1979 in seiner Retrospektive im Guggenheim Museum in New York zu sehen war. Ursprung schreibt: »Ein alter, rostiger VW-Bus stand auf der Rampe. Aus der geöffneten Hecktür schien eine Reihe von Schlitten auszuschwärmen. Die Schlitten, die separat auch als Multiple vertrieben wurden (Edition René Block; ein Exemplar ist zu sehen in der Ausstellung »Joseph Beuys und die Schamanen« (→ SCHAMANISMUS), waren mit einer Filzrolle, einem Klumpen Wachs oder Fett und einer Taschenlampe bepackt. Der Titel weckt Assoziationen von Wölfen oder Hunden. (…) Im Umfeld des weißgestrichenen Museums und der Rampe riefen sie Assoziationen einer Winterlandschaft hervor.« (Ursprung, S. 14). Sünner sah das Werk einst in Köln und wähnte sich bei dessen Anblick »in den Eiswüsten des Nordens, in kahlen Landschaften Schottlands oder Skandinaviens.« Die Schlitten, so Sünner weiter, «hatten nichts Fröhliches wie auf einer winterlichen Rodelpartie. Den Schlitten war der Schrecken in die Glieder gefahren, sie strebten fast panikartig von dem Bus weg in eine unbekannte Richtung.« (Sünner, S. 8/9) »Das Rudel« befindet sich heute in der Neuen Galerie zu Kassel. 

SCHAMANISMUS Im Museum Schloss Moyland ist die Ausstellung »Joseph Beuys und die Schamanen« zu sehen (bis 29.08.2021), in der die vielfältige Beschäftigung von Beuys mit dem Schamanismus, wie sie sich u. a. in frühen Zeichnungen von Tieren (Hirsch, Elch, Hase) und Schamanen zeigt, und unterschiedliche Facetten schamanischer Lebensweise aus Nordeuropa, Sibirien und der Mongolei gegenübergestellt werden. Während diese Gegenüberstellung hervorragend gelingt, vermögen die ebenfalls präsentierten Werke zeitgenössischer Künstler*innen zur Aktualität des Schamanismus nicht zu überzeugen. 

Im großformatigen, 344 Seiten starken und üppig bebilderten Katalog zur Ausstellung, in dem nicht nur die Beuys’schen Bezüge zum Schamanismus erhellt, sondern auch alle Aspekte des Schamanismus behandelt werden, lesen wir, dass Beuys sich keineswegs generell als identisch mit der Figur des Schamanen sah, sondern für sich – aus historischer und kultureller Distanz – zeitweise die »Rolle des Schamanen« in Anspruch genommen habe. Präsentiert habe er sich als ganzheitlichen Heilsbringer, der in der Lage sei, Spirituelles (als Schamane) und Materielles (als »zeitgenössischer wissenschaftlicher Analytiker«) in sich zu vereinen. (S. 31) Im Gespräch mit Heiner Bastian und Jeannot Simmen im Jahre 1979 führte Beuys aus: »Durch den Schamanismus weise ich auf den Todescharakter unserer Gegenwart hin. Ich weise aber zugleich darauf hin, dass der Todescharakter der Gegenwart in der Zukunft überwindbar ist.« (Hiermit trete ich aus der Kunst aus; S. 123).

TATAREN Sowohl Rüdiger Sünner in Zeige deine Wunde als auch Philip Ursprung in Joseph Beuys – Kunst, Kapital, Revolution widmen sich eingehend der sogenannten »Tatarenlegende«. Sünner nimmt den Titel der Beuys-Zeichnung ›Winterschädelerlebnis‹ von 1951 als Überschrift, Ursprung setzt sich damit unter der Unterüberschrift ›Der Absturz‹ auseinander. Die Legende handelt vom Abschuss eines Sturzkampfbombers im März 1944 in einem Schneesturm über der Krim, im Niemandsland zwischen der russischen und der deutschen Front. An Bord des Bombers: Joseph Beuys und der Pilot Hans Laurinck. Letzterer wurde getötet, während Beuys später als Teil einer »poetischen Biografie« (Sünner) darstellte, er sei von Tataren gerettet und mit Filz und Fett gepflegt worden. Zum ersten Mal, so Sünner, habe Beuys 1976 davon gegenüber dem Kunstkritiker Georg Jappe gesprochen.13

Ursprung führt die Tatarenlegende auf einen Text des Kataloges zurück, der 1979 anlässlich der Beuys-Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum erschien und schreibt: »Es ist Zeit, die Fixierung des Werks auf die Biographie zu lösen, sich von tradierten Erklärungsmustern zu befreien und die Kunst von Beuys stattdessen in den weiteren Zusammenhang mit der Geschichte des 20, Jahrhunderts zu stellen.« (Ursprung, S. 20)

Sünner zufolge schrieb Beuys in einem erst 2013 veröffentlichten Beileidsbrief an die Familie des getöteten Piloten Laurinck, er sei von russischen Arbeitern und Frauen aus den Trümmern geborgen worden. Und der Künstler Jörg Herold, der den Absturz der Maschine nachstellte, hat vor Ort Menschen nach dem Vorfall befragt. In den tatarischen Gemeinschaften sei aber nichts von einer solchen Rettung eines deutschen Soldaten berichtet worden. Ein solches Ereignis hätte sich aber wohl in dieser geschlossenen Gemeinschaft herumgesprochen. (Sünner, S. 17)

In seiner Kritik an dem Text ›Der ewige Hitlerjunge‹ von Beat Wyss, erschienen in der Oktobernummer 2008 des Magazins Metropol, hatte Wolfgang Müller geschrieben, der Kunstprofessor Wyss nehme die Kunstbiografie von Beuys »als Beweis von Unaufrichtigkeit und Nazizeitverdrängung. Ist dort die Rede von ›Tartaren‹, die ihn, den abgestürzten deutschen Piloten, gefunden hatten, in Filz wickelten und gesund pflegten, enthüllt Wyss: Alles Lüge! In Wahrheit sei Beuys nämlich gar nicht von Tartaren, sondern von deutschen Sanitätern gerettet worden. Von Deutschen! Hurra! Dass die Erzählung vom helfenden Tartaren Teil einer bewusst kunstvoll ›gesponnenen‹ Biografie ist, die mit der deutschen Russenparanoia spielt, müsste eigentlich jedem klar sein, der diese Biografie liest: Da debütiert er 1921 mit der Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengeklebten Wunde. 1921? War das nicht sein Geburtsjahr?«14

UNSCHLITT/TALLOW heißt eine Beuys-Skulptur, die sich heute in einem viel zu kleinen Raum im Hamburger Bahnhof zu Berlin befindet. Beuys war zu dieser »Wärmezeitmaschine« durch einen toten Raum über einer Fußgängerunterführung in Münster inspiriert worden. Er ließ ihn als Form nachbilden, um diese mit einer Talg-Stearin-Mischung auszufüllen, deren erkaltende Blöcke er dann zu der monumentalen Skulptur »Unschlitt/Tallow« zurechtschnitt. Sünner hat den toten Raum in Münster in Augenschein genommen und sich dem Werk im Hamburger Bahnhof ausgesetzt. Er schreibt: »Wie bei anderen Werken von Beuys drängt sich auch bei Unschlitt der Gedanke an Transzendenz nicht unmittelbar auf. Er klingt eher vorsichtig und subtil an, als könne es sonst in Kitsch abgleiten oder das, was Adorno ›Affirmation‹ genannt hat. Darin gleicht Beuys den Künstlern, die Adorno für ihre metaphysische Zurückhaltung besonders geschätzt hat, etwa Samuel Beckett oder Paul Celan.« (Sünner, S. 136/37)

VENEDIG Das Beuys-Ensemble »Straßenbahnhaltestelle« war 1976 in Venedig zu sehen. Das Denkmal »Der Eiserne Mann« von Kleve, den Beuys als Kind immer wieder gesehen hatte, ist durch den Abguss für die »Straßenbahnhaltestelle« in die Geschichte der modernen Skulptur eingegangen. Die zu dem Ensemble gehörende Feldschlange zierte ein Eisenkopf, der sich als Kopf von Anarchasis Cloots deuten lässt (s. Ursprung S. 220 f.) Cloots war wie Beuys am Niederrhein zuhause und setzte sich hundertfünfzig Jahre vor Beuys in Frankreich für Säkularisierung, Kosmopolitismus und die Instauration einer Herrschaft der Vernunft ein. Er wurde 1794 guillotiniert wurde und tauchte bei Beuys erstmals 1972 im Rahmen einer Aktion in Rom auf, bei der er aus  Schriften von Cloots las. Der Kopf in der zentralen Vitrine der letzten von Beuys vollendeten Inszenierung »Palazzo Regale«, die 1986 im neapolitanischen Museo di Capodimonte gezeigt wurde (s. Ursprung, S. 292), soll ebenfalls der Kopf des Anarchasis Cloots sein. 

WIEN Um die Begriffe Denken, Handeln und Vermitteln rankt sich die Beuys-Präsentation im Belvedere 21 zu Wien (bis 13.06.2021). In der Ankündigung heißt es: »Während das Hauptwerk Honigpumpe am Arbeitsplatz sinnbildlich für Joseph Beuys’ Credo der Veränderung der Gesellschaft aus der Kunst heraus steht, markieren die Hirschdenkmäler gleichsam den Neuanfang einer zerrütteten Gesellschaft. Daneben versammelt die Ausstellung Werke und Dokumentationen zu Beuys’ Wirken in Wien. Beuys war in der Stadt mit Ausstellungen, Aktionen und Vorträgen präsent – vor allem in der Galerie nächst St. Stephan. Für diese entwickelte er unter anderem das Environment Basisraum Nasse Wäsche. (…) Das Skulpturale begegnet uns in der Ausstellung als Relikt der Aktion, als filmische Dokumentation oder als Multiple. Die Performance Eurasienstab 82 min fluxorum organum, die 1967 in Wien uraufgeführt wurde, die Aktion Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt sowie die Langzeitperformance I like America and America likes me (→ COYOTE) machen die Stimmung jener Zeit nachvollziehbar.« Zur Ausstellung erschien ein erstklassig produzierter Katalog, der ebenfalls den Titel Joseph Beuys – Denken, Handeln, Vermitteln trägt. Darin heißt es, in der jetzigen Situation, in der eine Identitätspolitik als apodiktisches Bedürfnis nach Kategorisierung um sich greife und zu einem Schwarz-Weiß-Denken führe, sei »das avantgardistische Anliegen von Beuys mit dem Ziel ›verhärtete Strukturen‹ aufzuweichen, um aus polaren Gegensätzen eine neue Ganzheit entstehen zu lassen, wichtiger denn je.« 

In Wien diskutierte Beuys mit anderen 1983 die Idee einer umfangreichen Baumpflanzaktion im Zentrum von Österreichs Hauptstadt. Damals gab es eine Debatte über das zukünftige MuseumsQuartier. »Es ging darum, den kompletten inneren Bereich mit einem Schatten spendenden ›Wald‹ zu bepflanzen. Diese Bepflanzung sollte sich vor dem Gebäudekomplex bis zur verkehrsreichen ›2er Linie‹ fortsetzen.« (Denken, Handeln, Vermitteln, S. 80)15

ZEIGE DEINE WUNDE Das Environment »zeige deine Wunde« entstand 1974/75.  Es wurde erstmals im Februar 1976 in München in einem unterirdischen Raum am Eingang zur U-Bahn gezeigt und befindet sich heute im Münchner Lenbachhaus. Es besteht aus fünf Doppelobjekten: 2 Leichenbahren aus der Pathologie mit einigen hinzugefügten Objekte, 2 ungelesene Exemplare der italienischen Zeitung Lotta Continua, 2 Forken, 2 Schultafeln mit dem Titel »zeige deine Wunde« sowie zwei Schäleisen, mittels derer Baumstämme entrindet werden. Für Armin Zweite ist das Environment ein unverbrämter Hinweis auf den eigenen Exitus letalis als Memento mori. Laut Zweite sei es Beuys primär darum gegangen, die Todeszone sichtbar zu machen, auf die sich die heutige Gesellschaft mit rasender Geschwindigkeit zubewege.16 Für Ursprung evoziert das Werk die theoretisch und emotional so schwer fassbare Teilung von Deutschland in die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik nach dem Zweiten Weltkrieg (Ursprung, S. 201 ff.). Sünner hingegen schreibt, das Werk hätte gerade an seinem ersten düsteren Ausstellungsort uns auf Spaltungen in der Gesellschaft aufmerksam gemacht: »Vernunft und Trieb, Schönheit und Elend, Glanzmeilen und verkommene Ecken, Freundlichkeit und Gewalt…« (Sünner, S. 123)

Jürgen Schneider, Pfingsten 2021

Anmerkungen

1) https://www.spiegel.de/kultur/joseph-beuys-hoert-auf-mit-dem-scheinheiligen-getue-a-1017581c-8f67-4ff2-a00c-94e82d0db8d6 2) ibid. 3) Tobia Bezzola, Steiner, Rudolf Steiner (1861-1925), in: Harald Szeemann (Hrsg.), Beuysnobiscum. – Dresden: Verlag der Kunst, 1997, S. 330. 4) Andres Veiel, Die Ursache liegt in der Zukunft, in: Die Zeit, 12. Mai 2021. 5) ibid. 6) ibid. 7) ibid. 8) John Wilson Foster (Hrsg.), Nature Ireland – A Scientific and Cultural History. – Dublin: The Liilliput Press, 1997, S. 134. 9) Sylvia u. Paul F. Botheroyd, Lexikon der keltischen Mythologie. – München: Diederichs, 1992, S. 33. 10) ibid. 11) Sabine Röder, Joseph Beuys. Räume 1971-1984, Plastiken und Objekte 1952-1974 im Kaiser Wilhelm Museum Krefeld. – Bielefeld: Kerber Verlag, 2010, S. 118. Zur Herkunft des von Beuys verwendeten Filzes s. Julia Voss, Stoff aus Schweigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.2009, S. 46. 12) HP Riegel, Beuys. Die Biographie. – Berlin: Aufbau Verlag, 2013, S. 155. 13) Georg Jappe, Beuys Packen. Dokumente 1968-1996, Regensburg: Lindinger & Schmid, 1996, 209 f. 14) Wolfgang Müller, Vom Kampfpilot zum Streetfighter, in: tageszeitung, 24.10.2008 15) Zu Beuys in Wien siehe auch: Bazon Brock, Beuys der Mann mit dem Goldhelm, erklärt dem Dürerhasen an seiner Brust die deutsche Innerlichkeit, in: ders., Kritik der kaberettistischen Vernunft. Ein autobiografisches Scherbengerücht, Band 1. – Berlin: Distanz Verlag, 2016, S. 146 ff. 16) Armin Zweite, Zeige deine Wunde und andere raumbezogene Arbeiten von Joseph Beuys, in: Museumsverein Mönchengladbach, 7 Vorträge zu Joseph Beuys 1986. – Mönchengladbach Städtisches Museum Abteiberg, 1986, S. 37-58.