L.I.T

Paris

Den New Yorker Dichter Steve Dalachinsky und seine japanische Frau, die Schriftstellerin und Künstlerin Yuko Otomo, zieht es seit langer Zeit immer wieder nach Frankreich, wo Dalachinsky 2014 mit dem Orden »Chevalier des Arts et des Lettres« ausgezeichnet wurde. Es zieht sie vor allem nach Paris, den Sehnsuchtsort amerikanischer Schriftsteller der 1920-er Jahre, aber auch in andere Städte, wie etwa Marseille: »i approach life as a self-centered madman / here in the city of artaud’s birth«.  Die Größen von einst sind präsent: »in the toilette / in front of gate 73 / Louis Armstrong sings & plays / i can’t see him but i know he’s here…« Diese Zeilen findet sich in Dalachinskys Gedichtband where night and day become one – the french poems 1983- 2017(Great Weather for Media, New York City, 2018). Über dieses Werk schrieb Gary May im französischen Improjazz Magazine (07- 08, 2018): »Steve Dalachinsky ist einer der großen ›Flaneure‹ unserer Zeit. (…) Steve ist ein Poet, ein wahrer Poet, und in diesen Zeiten der Tweets und Trumps ist es notwendiger denn je, den Poeten zuzuhören, denn wie Steves Freund Ted Joans konstatiert hat, ›hast du vom Dichter NICHTS zu befürchten, außer der WAHRHEIT‹. Dieses Buch enthält Seiten der Wahrheit, die ohne Mäßigung gelesen werden sollten.« Für Dalachinsky, so Valery Oisteanu im Sensitive Skin Magazine (Juli 2018) »sind Friedhöfe wie Père Lachaise ein Muss für die Hipster, die nach anzestraler oder ästhetischer kommunitärer Verbundenheit, nach Orten suchen, die nach toten Dichtern benannt sind.«

Dalachinsky wird häufig als »jazz poet« bezeichnet. Diese Bezeichnung ist irreführend. Wenn es schon der Klassifizierung bedarf, sollte er »free jazz poet« genannt werden, hat doch seine Verskunst nichts mit jenem gefälligen Jazz zu tun, der gerne von Studienräten in angestaubten Jazz-Clubs gehört wird. Dalachinsky hat u. a. mit Musikern wie William Parker, Susie Ibarra, Matthew Shipp, Roy Campbell, Daniel Carter, Sabir Mateen, Mat Maneri, Federico Ughi, Loren Mazzacane Connors, Rob Brown, Tim Barnes, Michael Evans und Thurston Moore (Letzerer of Sonic Youth fame) gearbeitet. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehören die expliziten »Jazz- Bücher« The Final Nite mit Gedichten, die er in mehr als zwanzig Jahren als Zuhörer des Tenorsaxofonisten Charles Gay verfasste; Logos and Language, eine Kollaboration mit dem Pianisten Matthew Shipp, die auch Shipp gewidmete Gedichte enthält; The Mantis, ein Band für den Pianisten Cecil Taylor aus über fünfzig Jahren, das erste Taylor-Gedicht schrieb Dalachinsky, als er neunzehn Jahre alt war; Reaching Into The Unknown, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Fotografem Jacques Bisceglia, ein Mammutwerk von 450 Seiten mit Gedichten von 1967 bis 2011, ins Notizbuch geschrieben, während der Dichter Jazz in allen Varianten lauschte; Long Play E.P., ein Büchlein für den Saxofonisten Evan Parker.

In where night and day become one wechselt Dalachinsky von der freien Versform in die konkrete- oder in die Onomatopoesie, streut die Wörter über die Seite wie einst die Dadaisten, konstruiert und dekonstruiert Wörter, treibt Wortspiele, jongliert mit Namen, und wir begegnen Apollinaire, Baudelaire, Cezanne, Goya, Rodin und anderen. Der Dichter reist nach Giverny, für seine Mutter »(…)die an heißen Tagen manchmal eine dunkle Brille getragen hat / die nie im Museumsgarten stand und den badenden Statuen zugemurmelt hat / meine Mutter die ihr Bestes tat mir ein wenig Bildung zuteil werden zu lassen / außerhalb des Systems trotz des ihr fehlenden Wissens / meine Mutter die mich so sehr liebte dass es schmerzte / & ich der immer noch nicht weiß ob lieben Schmerz bereiten bedeutet / Ich reise nach Giverny in einem Zug voller Proletarier /die wie ich vermute ebenfalls nach Giverny reisen zum ersten Mal für sich / & für andere die diesen Trip nie machen werden…« Oder Dalachinsky »wartet, dass die Musik beginnt, doch was, wenn in mir nichts ist?«

Mexiko-Stadt

Mexiko-Stadt, Tampico und Cuernavaca sind die Schauplätze des in Le Monde des Livres »atemberaubendes Fresko« genannten Buches Viva von Patrick Deville (Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Bilgerverlag, 2017). Deville formuliert bescheiden, er wolle das Leben der in Mexiko weilenden Exilanten Leo Trotzki und Malcolm Lowry zusammenführen, von einem, »der in der Geschichte

handelt und einem, der nicht handelt«. Zu einem zweiten Haupterzählort wird zwischendurch auf verschiedenen Zeitebenen Russland, in dem der Maler Diego Rivera 1927 den »Riss« wahrnahm, als Trotzki längst in der Verbannung war.
Trotzki studiert in Mexiko-Stadt die mexikanische Geschichte bis zu den Truppenaufzügen der Armeen von Zapata im Süden und von Villa im Norden, die 1914 in Mexiko-Stadt einmarschieren, bis zur schönen mexikanischen Revolution deren Erbe Präsident Lazaro Cárdenas ist. »Jetzt weiß Trotzki, wo er sich befindet, im Raum und in der Zeit. Er ist bereit, von dieser Insel der Demokratie aus, die allein zwischen Faschismus und Nazismus und Stalinismus standhält, den Kampf wideraufzunehmen, gegen die Geschichtsverfälschung, gegen den Thermidor zu kämpfen, Flagge zu zeigen, und eine Vierte Internationale zu gründen.« Er probt vor laufender Kamera in einem nahezu unverständlichen Französisch Ansprachen an eine fiktive Menge, füttert Hühner und Kaninchen. Lowry, der Trotzki bewundert, arbeitet an seiner »mescalinspirierten Phantasmagorie«, die später den Titel Under the Volcano (Unter dem Vulkan) tragen wird. Beide, so Deville, rufen uns zu, »dass jeder von uns dem Unmöglichen verpflichtet ist«.
Deville strickt ein großartiges Netz realer und möglicher Begegnungen und lässt uns an atemberaubenden Assoziationen teilhaben: Die nach ihrem Verkehrsunfall körperlich beeinträchtigte Frida Kahlo, mit der Trotzki eine Affäre hat, geht mit dem Mittel Demerol gegen ihre Schmerzen an. Das Mittel erinnert Deville daran, dass William Burroughs es in seinem Roman Junky erwähnt. Burroughs nahm Demerol als Heroin-Ersatz, ein Beruhigungsmittel, so Deville, »das ihm an jenem Tag im September 1951 zweifelsfrei fehlte, als er im Stadtviertel La Roma unweit von La Gondesa auf der anderen Seite der Avenida des los Insurgentes mit einer Pistole Wilhelm Tell spielte und dabei seiner Frau eine Kugel in den Kopf jagte.« Von hier kommt Deville auf Huxley, der anders als Lowry nie den Peyotl und die Agave verwechselt hätte und der sich ebenfalls in Mexiko einfand, »um in Mexicolor Erleuchtung zu finden und die Pforten der Wahrnehmung [Doors of Perception] zu schreiben, ein Titel, den er einem Gedicht von William Blake entlehnte und den der Dichter Jim Morrison wiederum als Name für seine Rock’n’Roll-Band aufgreifen sollte.«

Wir begegnen der englischen Künstlerin und Dichterin Mina Loy sowie dem Boxer und Herausgeber der Avantgarde-Zeitschrift Maintenant, Arthur Cravan, der an Bord des Dampfers Montserrat mit Trotzki plauderte, sowie B. Traven alias Red Marut. Cravan und Traven sind sich nie begegnet, nach Cravans Verschwinden in Mexiko wird allerdings spekuliert, dass sie ein und dieselbe Person gewesen sein könnten. Wir treffen die italienische Fotografin und »Mata Hari des Stalinismus«, Tina Modotti, den langjährigen Sekretär und Leibwächter Trotzkis, Jean van Heijenoort, die Schriftsteller Benjamin Perét und Victor Serge, den Trotzkisten Pierre Naville und den französischen Vulkan-Verleger Maurice Nadeau sowie Antonin Artaud, der in Mexiko die Sonnenkultur sucht und auf das Erwachen des Donnervogels wartet. »Der magere, schwarz gekleidete Gott ist in Aufruhr, hebt die Arme zum Himmel, verflucht das ganze Geschwätz der Wissenschaft und der Literatur: ›Alles Geschriebene ist Schweinerei‹.«

Anderthalb Jahre nach Artaud geht André Breton, »der kleine Tyrann des Surrealismus««, in Mexiko an Land, er, der vergessen hatte, Artaud aus der Surrealisten-Gruppe auszuschließen. Zusammen mit Trotzki soll er ein Manifest für eine unabhängige und revolutionäre Kunst verfassen, bringt aber den einstigen Mastermind der Roten Armee zur Rage, weil er vor ihm ins Stammeln gerät, das er später brieflich mit seiner Verehrung Trotzkis entschuldigt. Trotzki muss das Manifest mit Jean van Heijenoort zum Abschluss bringen. Dieser berichtete später: »Nach erneuten Gesprächen nahm Trotzki alle Texte an sich, schnitt sie auseinander, fügte hier und da einige Worte hinzu und klebte alles zu einer ziemlich langen Schriftrolle zusammen. Ich tippte die Endfassung auf Französisch, indem ich die russischen Einfügungen Trotzkis übersetzte und Bretons Prosa bewahrte.« Breton hatte formuliert: »In der Kunst ist alles erlaubt, es sei denn, sie richtet sich gegen die proletarische Revolution.« Trotzki streicht und kürzt: »In der Kunst ist alles erlaubt.« Punkt.

Breton verspricht Frida Kahlo eine Ausstellung in Paris. Als sie jedoch dort eintrifft, ist nichts vorbereitet. Nach ihrer Begegnung mit dem surrealistischen Kreis um Breton schreibt sie: »Sie leben wie Parasiten von den ganzen reichen Schachteln, die ihr künstlerisches Genie bewundern.« Nur Marcel Duchamp, der zwanzig Jahre zuvor in New York der Freund von Cravan und Mina Loy war, findet Gnade vor Fridas Augen, »der einzige in diesem Haufen durchgedrehter Surrealistenärsche, der mit beiden Beinen auf der Erde steht.«

Jean van Heijenoort, der bereits in die USA abgereist war, als Ramón Mercader Trotzki mit einem Eispickel erschlug, machte sich Vorwürfe, weil der Mord dieses Schergen Stalins nicht passiert wäre, wenn er im Haus in Coyoacán gewesen wäre. Dort hatte Trotzkis zweite Ehefrau, Natalja Iwanowna, einst den düsteren Satz notiert: »Wir gehen in dem kleinen tropischen Garten umher, umgeben von Gespenstern mit durchlöcherter Stirn.«!

(Jürgen Schneider aus: ABWÄRTS Nr. 28)