L.I.T.

RAF, Dr. Wichtig Speitel und Stammheim

»Die RAF – als solche – hat es (…) nie gegeben. Die RAF – das war ihre Besonderheit, ihre Stärke wie ihre Schwäche – war ein Zusammenschluss von Individuen, in dem jedes eine eigene Vorstellung von der Idee der RAF hatte.« So beginnt der ehemalige Aktivist der Roten Armee Fraktion Christof Wackernagel sein neues Buch mit dem Titel RAF oder Hollywood (Verlag zu Klampen). Darin versucht er den Prozess darzustellen, wie er zur RAF kam, »das Denken, das Fühlen, den Zeitgeist zu Wort kommen zu lassen, wie er damals war (…)«, wie er »damals dachte, fühlte, sprach und handelte.«

Der Trigger, sich der RAF anzuschließen, war offenbar eine Stellungnahme des RAF-Akteurs Jan Carl Raspe im Gerichtssaal von Stuttgart-Stammheim, in dem Wackernagel als Assistent von Gudrun Ensslins Verteidiger Hans Heinz Heldmann Tonbandaufnahmen von der Erklärung der Gefangenen aus der RAF machte. Es ließ ihn »aufhorchen«, als Raspe erklärte: »Was Frantz Fanon Anfang der 60er Jahre aus der Erfahrung der Insurrektion der Völker der Dritten Welt herausfand, dass man mit nur Wut, Hass, spontaner Bewegung ›nicht in einem nationalen Krieg siegen, die furchtbare Kriegsmaschine des Feindes nicht in die Flucht schlagen kann‹, das fand seine Entsprechung in den Metropolen in der wesentlichen Erfahrung der Studentenbewegung: dass Spontanität, Revolte integrierbar ist, wenn sie sich nicht bewaffnet.« (Hervorhebung CW)

Wackernagel schreibt über sein Aufhorchen: »Integration wandelte die Ideen für eine neue Gesellschaft um in Funktionen für die alte. Keine bessere neue, sondern eine verbesserte alte. (…) Auch wenn ich es zunächst nichtwahrhaben wollte: Das war die Antwort, die weder Benjamin, noch Marcuse oder Adorno gaben: Das hieß, dass ich mir entweder selbst die Kugel geben konnte – oder die Waffe in die Hand nehmen musste, wenn ich die Ziele weiterverfolgen wollte, die mich seit der Entstehung meines politischen Bewusstseins antrieben.« (S. 240)

Die Geschichte, wie Wackernagel als Schauspieler in Tätowierung (1967) zum »Jungfilmstar« (Der Spiegel) wurde, in einer Kommune lebte, in einer linken Druckerei mitwirkte, soll hier nicht weiter ausgebreitet werden. Im Anwaltsbüro von Klaus Croissant arbeitete Wackernagel in der Öffentlichkeitsarbeit für die Haftsituation der Gefangenen aus der RAF auch mit Volker Speitel zusammen, der in seinen Erinnerungen dann auch immer wieder auftaucht: »Dr. Wichtig Speitel, der immer als Erster wusste, wo Bartel den Most holt.« (S. 257) Speitel »profilierte sich als ›Gscheidle‹ und achtete sorgsam darauf, dass er alle Fäden in der Hand hielt und die Informationen höchst wichtig so verteilte, dass er als Einziger den Gesamtüberblick hatte, was genau den Prinzipien widersprach, die wir alle vor uns hertrugen, ein Widerspruch, der aber nicht ausreichte, um deswegen auszusteigen.« (S. 218) Speitel wurde Wackernagel umso suspekter, je genauer er ihn kennenlernte. »Ich verstand nicht, wieso die Stammheimer zu so jemandem Vertrauen haben konnten, wahrscheinlich aus der Not ihrer Situation heraus – und weil sie ihn ja gar nicht kannten.« (S. 247)

Volker Speitel lässt sich am 2. Oktober 1977 in Puttgarden im Skandinavien- Express von Kopenhagen nach Hamburg festnehmen – Schleyer war entführt worden, und die Fahndung nach den Mitgliedern der RAF lief auf Hochtouren. Speitel war 1975 zu den Illegalen der RAF gestoßen, von diesen aber wieder in die Legalität entlassen worden, weil er schon beim Anblick eines Polizeibeamten panische Reaktionen zeigte. Wackernagel erinnert sich, dass Speitel zu seinen Zeiten in Stuttgart dann davon ausging, er werde »von allen Seiten abgehört« (Wackernagel, a. a. O., S. 291).

Schon vor seiner Festnahme im Oktober 1977 hatte Speitel über Mittelsmänner der BRD-Sicherheitsbehörden, die gegen ihn wegen seiner angeblichen Beteiligung an der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm ermittelten, »wissen wollen, welche Chancen er habe, wenn er … zurückkehre«. (Weidenhammer, Selbstmord oder Mord? Todesermittlungsverfahren Baader Ensslin Raspe, 1988, S. 221) »Dabei soll es unter anderem in Basel, Brüssel und in Frankfurt a. M. zu Kontaktaufnahmen und Gesprächen gekommen sein.« (ibid.) Laut Ex-Generalbundesanwalt Rebmann soll Speitel erst nach dem 18. Oktober 1977 Aussagen gemacht haben. Doch »es ist während der Verhandlung gegen die Rechtsanwälte Müller und Newerla u.a. nachgewiesen worden, dass Volker Speitel bereits vor dem 18.10.1977 Angaben gegenüber Oberstaatsanwalt Lampe von der Bundesanwaltschaft gemacht hat und bereits vor diesem Datum zu umfangreicher Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden bereit gewesen ist. Die Bundesanwaltschaft bestätigte im Prozess gegen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt im März 1985, dass Speitel vor dem 18.10.1977 bereits Aussagen gemacht hat. In diesem Prozess hatten die Anwälte Elard Biskamp und Michael Schubert darauf bestanden, dass Speitel als Zeuge erscheint. Sie konnten schlüssig vortragen, dass er schon kurz nach seiner Verhaftung Aussagen gemacht hatte. Die Bundesanwaltschaft bestätigte die Angaben der Anwälte durch die Feststellung, dass die von den Anwälten behaupteten Beweistatsachen so behandelt werden können, als wären sie wahr.« (http://www.todesnacht.com/Dokumente/AntragNeueroeffnungTodesermittlun gsverfahren.pdf)

Kurz nach seiner Festnahme wird die Kanzlei, in der Speitel arbeitete, durchsucht und versiegelt. Anlass war der Hinweis von Speitel auf Aktenverstecke im Kopierraum der Kanzlei. Später werden aufgrund der Hinweise von Speitel in einem Versteck die Griffschalen der bei Raspe gefundenen Waffe sichergestellt. (s. Klaus Stern/Jörg Hermann, Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes, 2007, S. 304) Das Ex-RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo führt in dem Buch Das Projektil sind wir (2007, S. 149) aus: »Der spätere Kronzeuge Volker Speitel hatte damals die ganze Kommunikation zwischen den Illegalen und den Stammheimern organisiert. Mit meinem Bruder zusammen sorgte er für den Transport der Waffen nach Stammheim.«

Gehen wir also davon aus, dass es möglich war – auf welchem Wege auch immer – Waffen nach Stammheim zu schmuggeln1, Speitel die Waffentransporte vorbereitete und unmittelbar nach seiner Festnahme im Verhör durch BKA-Beamte sein Detailwissen preisgab, so konnten die Sicherheitsbehörden mit diesem Wissen operieren2, es in das »wilde Denken« integrieren, zu dem Bundeskanzler Helmut Schmidt bereits in der Nacht nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer den Generalbundesanwalt Rebmann angeregt hatte.3 Die Akten über die erste Vernehmung von Speitel, so Helge Lehmann in seinem Buch Die Todesnacht in Stammheim (Books on Demand), sind nicht zugänglich bzw. nicht auffindbar. Noch vor der offiziellen Feststellung des Todes von Baader, Ensslin und Raspe ging am Morgen des 18.10.1977 um 8.53 Uhr eine dpa-Meldung über die Fernschreiber, dass laut Mitteilung des baden-württembergischen Justizministeriums Andreas Baader und Gudrun Ensslin Selbstmord begangen haben. Noch vor den kriminaltechnischen Untersuchungen in den Gefängniszellen verkündete Regierungssprecher Bölling im Namen der Bundesregierung, der Partei- und Fraktionsvorsitzenden der vier Bundestagsparteien sowie der Ministerpräsidenten von vier betroffenen Landesregierungen, dass die Gefangenen »das Mittel der Selbstzerstörung eingesetzt haben«. Noch vor der amtlichen Obduktion erklärte schließlich Bundespräsident Scheel um 20.15 Uhr in einer Rundfunk- und Fernsehansprache, dass die vier Gefangenen in Stammheim Selbstmord begangen bzw. einen Selbstmordversuch unternommen haben.

Real Nazis

Anselm Kiefer stellte sich 1969 als aufstrebender Künstler mit seinen Besetzungen in bevorzugten südlichen Reiseländern der Bundesdeutschen mit dem Nazi-Gruß salutierend dar, und der in Berlin sich neoexpressionistisch austobende Künstler Jonathan Meese zeigte ihn in den vergangenen Jahren in vielen Aktionen. In einer großen Frankfurter Ausstellung hatte Meese schräg über sein Selbstporträt Hitlers Bild an die Wand geklebt und darauf das Wort »Vater« geschrieben. Georg Diez hatte dazu vor zehn Jahren in der Zeit angemerkt: »
Postmodern ist das nicht, es geht nicht um Dekonstruktion, es geht darum, die Kraft Hitlers zu benutzen. Schmutzig ist gut, das ist der alte Kunstreflex dabei; schmutzig ist lustig, das ist die entschuldigende Logik. Es ist aber nicht lustig. Es ist nicht lustig, wenn als Meeses MySpace-Freundin Eva Braun angegeben ist, ein Neonazi-Centerfold, in heiterer Obersalzbergpose und mit gepunktetem Rock.«

Meeses Auftritt mit Hitlergruß in Kassel bei der im Vorfeld der dOCUMENTA (13) stattfindenden Veranstaltung ›Größenwahn in der Kunstwelt‹ führte 2013 zu einem Gerichtsverfahren. Das erkannte an, dass Meeses Auftritt bei der Veranstaltung der Kunstsphäre angehörte. Daher entschied es zugunsten der Kunstfreiheit und sprach Meese frei.
Bei der diesjährigen Documenta begegneten uns über 200 Fratzen des Naziregimes – eine Fotoinstallation des 1968 in Warschau geborenen Künstlers Piotr Uklański mit dem Titel Real Nazis. In der Mitte zu sehen war Adolf Hitler, durch ein rotes Kreuz ausgeXt. Uklański verwendete das Titelbild des Time Magazine vom 7. Mai 1945. Durch das rote X war Hitler hervorgehoben, in den Fokus gerückt. In dem zu dieser Installation erschienenen Katalogband Real Nazis (Edition Patrick Frey) ist Hitler auf die hinteren Seiten verbannt. Das macht das Projekt nicht besser, erst recht nicht, wenn es mit der Bezeichnung »glamouröse Fiktion des Bösen« versehen wird. Kunstmarktmagazine stellten das Uklański-Werk als Documenta-Highlight ins Netz. Und im Spiegel war zulesen: »Natürlich sind die Nazi-Bilder von den Fotografen inszeniert, ausgewählt, einem Zweck unterworfen. Vollkommen lässt sich der Zufall, der Charakter der Abgelichteten, ihr Verhältnis zum Fotografiertwerden offenbar dennoch nicht verbannen. Wohl auch nicht bei den Bildern auf den verstörendsten Seiten dieses Bands: Einer Reihe von Fotos, auf denen uns lächelnde, ja breit grinsende, fast schon losprustende Männer ansehen. Hochrangige Nazis. Wären es Bundeswehrsoldaten, die Bilder wären eigentlich ganz sympathisch. Im historischen Kontext sind sie der Horror.«
Bundeswehrsoldaten wären als Nazis sympathisch? So sympathisch vermutlich, wie die NS-Typen, die Rudolf Augstein einst hofierte, der 1947 Herausgeber und Chefredakteur des Spiegel wurde Uklański wurde anders als der Autor dieser Zeilen in der Schule nicht von dem ein oder anderen Nazi unterrichtet, ihm konnten sich solche Visagen also auch nicht unauslöschlich einprägen. Im Bundestag kann er nun als Besucher dieses seiner späten Geburt geschuldete Manko aufheben und sich die Gesichter der Gaulands einprägen. Uklański Großvater Stefan Grzelak wurde im SS-Arbeitslager Friedrichshafen gequält. Mit seiner Arbeit will Uklański der Amnesie und der neuen Form eines »demokratischen Faschismus« entgegenwirken. Dies kann aber mit der bloßen Aneinanderreihung von Naziporträts nicht gelingen, die eigentlich nur scheußliche voyeuristische Instinkte weckt. Eigentlich weiß der Künstler dies, wenn er schreibt: »Es gibt keine Wahrheit in der Repräsentation.«

Die sich kritisch gebärdenden Documenta-Macher hätten besser daran getan, statt der Real Nazis die Fotos aus dem Album auszustellen, das im vergangenen Jahr im Verlag Philipp von Zabern unter dem Titel Das Höcker-Album: Auschwitz durch die Linse der SS erschien, also aufklärerisch zu wirken, statt das Spektakel zu bedienen. Dessen Hauptsponsor hieß VW, jenes Unternehmen, das einst der faschistischen Automobil-Machung dienen sollte. Von einer künstlerischen Auseinandersetzung mit ihrem Sponsor haben die Documenta-Macher Abstand genommen – wes Brot ich ess, des Lied ich sing. 2007 erhielt das United States Holocaust Memorial Museum von einem ehemaligen US-amerikanischen Nachrichtenoffizier ein Fotoalbum. Das Album entpuppte sich schnell als Sensation. Denn es hatte Karl Höcker gehört, dem Adjutanten des letzten Lagerkommandanten von Auschwitz, Richard Baer. Die 116 Bilder zeigen SS-Personal und Besucher: bei der Jagd, bei Schießübungen, bei Freizeitaktivitäten – parallel zum Massenmord in Auschwitz zwischen Juni und Dezember 1944. In diesem Album können die verantwortlichen SS-Schergen identifiziert werden, auch solche, von denen bislang nicht bekannt war, dass sie in Auschwitz ihrem mörderischen Handwerk nachgingen. Stefan Hördler schreibt in seinem Buchbeitrag ›Gesichter der Gewalt – SS-Netzwerke, Personalpolitik und Massenmord in Auschwitz‹: »Die Personen- und Gruppenkonstellationen der SS in Ausschwitz, aber auch das Patronagesystem und das Selbstverständnis der Lagerführung wie der Vernichtungsspezialisten im KZ-System können symptomatisch aus dem SS-Album von Karl Höcker herausgelesen werden.«

1) »Generalbundesanwalt Rebmann teilte am 10.1.1978 dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg schriftlich mit, dass das Rätsel, wie die Handfeuerwaffen in die JVA Stammheim kamen, gelöst sei. Er sagte dann am 12.1.1978 vor diesem Ausschuss aus, der Verteidiger Arndt Müller habe unter anderem die bei Andreas Baader und Jan-Carl Raspe gefundenen Waffen in präparierten Aktenordnern ins Mehrzweckgebäude (MZG) geschmuggelt. In Lehmanns Buch Die Todesnacht in Stammheim wurde an Hand von Aussagen der kontrollierenden Vollzugsbeamten in Stammheim, Aussagen von Beamten des LKA Baden-Württemberg sowie durch eine Überprüfung im Testverfahren wider jeden begründeten Zweifel gezeigt, dass ein Waffenschmuggel wie von Kurt Rebmann beschrieben nicht möglich war. Ebenso wird die Aussage des Kronzeugen Volker Speitel vor Gericht berücksichtigt, in der er beschreibt, wie er Waffen und andere Gegenstände über die Anwälte in das MZG eingeschleust haben will. Es ist während der Verhandlung gegen die Rechtsanwälte Müller und Newerla u.a. nachgewiesen worden, dass die Polizeibeamten, die für die Kontrolle der Anwälte im MZG verantwortlich waren und diese durchführten, jeweils bei ihren Kontrollen Metallsonden eingesetzt haben, die Aktentasche der Anwälte ausräumten oder von den Verteidigern ausräumen ließen, die Aktenordner durchblätterten und schüttelten und die Akten nicht in den Händen der Verteidiger beließen. Die von den Verteidigern befragten Polizeibeamten beschreiben die intensiven Kontrollen beim Zugang der Anwälte in das MZG. Eine Untersuchung der Akte ohne einen Hohlraum zu bemerken, wie sie von den Polizeibeamten beschrieben wurde, war so nicht möglich. Trotz der Erklärung Rebmanns kommt der Untersuchungsausschuss des Landtages Baden- Württemberg am 9.3.1978 in seinem Abschlussbericht zu dem Ergebnis: ›Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme muss die Frage, wie die Gefangenen in den Besitz von Waffen und Sprengstoff gelangt sind, letztendlich offen bleiben.‹« (http://www.todesnacht.com/Dokumente/AntragNeueroeffnungTodesermittlungsverfahren.pdf)

2) Während der Entführung von Hanns Martin Schleyer wurden im Bundeskanzleramt zwei Krisenstäbe gebildet. In diesen Krisenstäben, »die weder legal noch legitim waren« (Wolfgang Kraushaar, Die blinden Flecken der RAF, Klett-Cotta, 2017, S. 26) wurden Strategien zum Umgang mit der Entführung und den RAF-Gefangenen besprochen und festgelegt. Hinzu kam das im Eilverfahren verabschiedete Kontaktsperregesetz, mit dem die Kommunikation zwischen den Gefangenen aus der RAF und deren Anwälten systematisch unterbunden wurde. Die Gefangenen waren somit gänzlich der Verfügungsgewalt des Staates unterworfen. »Wenn man diese Handlungsinstrumente betrachtet, wird deutlich dass die damalige Bundesregierung ebenso wie die führenden Oppositionspolitiker nicht nur dazu bereit waren, die Exekutivmacht über Gebühr zu strapazieren, sondern ihr Handeln auch so weit vom Parlament abzukoppeln, dass es kaum noch eine Möglichkeit der Wahrnehmung der ihr obliegenden Kontrollfunktion gab. Damit war die verfassungsrechtlich gebotene Gewaltenteilung ernsthaft gestört. Der Bundeskanzler war nicht nur an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen, er hatte diese insofern auch überschritten und sie in Anbetracht der genannten Aspekte insgesamt in Richtung auf einen Ausnahmestaat verschoben, einen Staat autoritärer Prägung, der nur davor zurückschreckte, den ›Notstand‹ auszurufen und sich der für einen solchen Fall vorgesehenen Notstandsrechte zu bedienen.« (Kraushaar, a. a. O., S. 27) Dieser Feststellung lässt Kraushaar krude Ausführungen zur RAF folgen, zu deren Untermauerung der Politikwissenschaftler der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur sich gar auf Berichte der Bild-Zeitung stützt. Klaus Bölling, zu Zeiten der Schleyer-Entführung Sprecher der Regierung Schmidt, schrieb über den Großen Krisenstab: »Im ›Großen Krisenstab‹ saßen mindestens vier Männer am Beratungstisch, die Offiziere der Wehrmacht gewesen sind: die Oberleutnants Schmidt und Strauß, der Leutnant Zimmermann und ›das Hirn‹ der Rasterfahndung, Horst Herold. Kann es nicht sein, daß diese wichtigsten Figuren, obwohl sie der Rote Armee Fraktion die von deren Aktivisten reklamierte Qualität einer ›kriegführenden Partei‹ absprachen, selber in militärischen Kategorien dachten, harte Männer mit Fronterfahrung, die jedes Nachgeben als Feigheit empfunden hätten?« (Klaus Bölling, Harter Staat, Schleyers
Not, in: Der Spiegel, 30.06.1997)

In den Medien wurde der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe, nach Bei der Landesgruppe der CSU »war in der Diskussion unter anderem eben auch die Frage der Wiedereinführung der Todesstrafe oder die Überlegung, wie man Erpressungsversuchen künftig standhalten könne – ob etwa durch die Erschießung der gefangenen Terroristen in halbstündigem Abstand – so lange, bis ein Entführter freigelassen werde.« (Süddeutsche Zeitung, 10.09.1977). // Walter Becher, CSU-Landesgruppe: »Bei weiterer Eskalation des Terrors sollte dann auch etwa mit den Häftlingen von Stammheim kurzer Prozess gemacht werden.« (Der Spiegel, 12.09.1977) // »Der bayerische Innenminister Alfred Seidl (CSU) sprach sich gestern dafür aus, das Verbot der Todesstrafe aus dem Grundgesetz herauszunehmen.« (Die Welt, 13.09.1977) // Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Kühn (SPD): »Die Terroristen müssen wissen, daß die Tötung von Schleyer auf das Schicksal der inhaftierten Gewalttäter, die sie mit ihrer schändlichen Tat befreien wollten, schwer zurückwirken müsste.« (Die Welt, 14.09.1977) // »Auch die Wiedereinführung der Todesstrafe (durch Verfassungsänderung) … wäre zu diskutieren … bei Erpressungen wie in den Fällen Lorenz und Schleyer. Niemand wird bestreiten, daß die Todesstrafe hier einen von der Vernunft bestimmten Zweck erfüllt: Ein Staat, der seine Terroristen hinrichtet, kann nicht mehr genötigt werden, sie nach Südjemen auszufliegen. Auch scheidet ein exekutierter Verbrecher künftig als Attentäter aus.« (Prof. Dr. Wilfried Lange, Die Welt, 29.09.1977) // Golo Mann: »Der Moment kann kommen, in dem man jene wegen Mordes verurteilten Terroristen, die man in sicherem Gewahrsam hat, in Geiseln wird verwandeln müssen, indem man sie den Gesetzen des Friedens entzieht und unter Kriegsrecht stellt.« (ARD, Panorama, 17.10.77) »Läßt sich nichts ändern an der deprimierenden Ungleichheit der Überlebenschancen zwischen den Bandenmitgliedern einerseits, den von Verfolgten und ihren Geiseln andererseits? … Wäre es nicht an der Zeit, über ein Notrecht gegen Terroristen nachzudenken?« (FAZ, 18.10.1977) // »Eine kleine Gruppe hoher Beamter hatte tatsächlich alle nur denkbaren Möglichkeiten erörtert, ohne Rücksicht auf außenpolitische Komplikationen, ohne Rücksicht selbst auf das Grundgesetz. So spielten sie den Plan durch, im Zielland auch gegen den Willen der jeweiligen Regierung die Ankömmlinge zu kidnappen oder gar zu exekutieren. Sie entwarfen Pläne, in einem befreundeten afrikanischen Land eine Attrappe des von den Terroristen angegebenen Zielflughafens aufzubauen.« (Der Spiegel, 24.10.77)

3) »Der 1977 amtierende Bundesjustizminister Hans Jochen Vogel stellte am 18.10.2002 in der ZDF- Sendung ›Johannes B. Kerner‹ fest, er habe am 18.10.1977 zwischen 5.00 und 5.30 Uhr durch einen Anruf des damaligen Generalbundesanwalts Kurt Rebmann vom Tod der RAF-Gefangenen Baader und Ensslin erfahren. Der Notrecht und Ignorierung der Grundrechte laut: Zeitpunkt, an dem die erste Zelle im 7. Stock der JVA Stammheim an diesem Morgen geöffnet wurde, war 7.41 Uhr, als die Vollzugsbeamten Gerhard Stoll und Willi Stapf die Zelle von Jan-Carl Raspe betraten [Raspe atmete noch und wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo er gegen 9:40 Uhr starb].«

(http://www.todesnacht.com/Dokumente/AntragNeueroeffnungTodesermittlungsverfahren.pdf)
(aus: ABWÄRTS, Heft 23, November 2017)