Polke, »Cut!«, Pohl

»Diabolik« ist eine der erfolgreichsten Comicserien in Italien. Mit dem 1962 von den Schwestern Luciana und Angela Giussani erfundenen Urahn der italienischen »fumetti neri« hat ein völlig neuer Held die Comicwelt betreten. Der Edelschurke Diabolik begeht mit Hilfe der bildschönen Eva Kant schnell und clever seine Verbrechen. »Kein anderer italienischer Comic hat eine derart fesselnde Figur. Diabolik ist das Genie des Bösen: entschlossen, unerbitterlich, nicht aufzuhalten, unberechenbar und frech« (»Brescia Oggi«, Nov. 1992).

Im Jahre 1976 fürchtete man in den Redaktionsstuben des »Spiegel« nicht nur den sog. »Terrorismus«, sondern auch den schnoddrigen Ton von Comics sowie eine von »rund 40.000 bundesdeutschen Bonbonläden, Supermärkten und Kiosken« ausgehende »Superfrustation« durch Comic-Superhelden. Der Künstler Sigmar Polke (1941-2010) studierte zu jener Zeit lieber Comics als die an der Elbe ersonnenen »Spiegel«-Texte. Und so kam es, dass er sich 1979 ein »Diabolik«-Heft vornahm und den italienischen Text in der Tradition der Situationisten durch aus deutschen Zeitungen entwendete Textfragmente – durch ein Cut-up – ersetzte. »Die Entwendung«, so heißt es in »Die Gesellschaft des Spektakels«, dem 1967 erschienenen situationistischen Hauptwerk aus der Feder von Guy Debord, bei dem es sich ebenfalls um eine Art Cut-up handelt, »ist die flüssige Sprache der Anti-Ideologie.« Wer erwartet, dass Polke einen Plot entwickelte, wird enttäuscht. Bei ihm wird der Gentleman-Gangster Diabolik mehr oder weniger mit den Stichworten LSD, CIA, Atom und Iran durch die Comic-Seiten geleitet.

Polkes »Diabolik« ist noch bis zum 28. August 2016 in der Ausstellung »Sigmar Polke – Gerhard Richter. Schöne Bescherung« in dem von der Schließung bedrohten Museum Morsbroich zu Leverkusen zu sehen (www.museum-morsbroich.de). Eine Faksimile-Edition des durch Entwendung/ Cut-up zu einem Polke’schen Künstlerbuch gewordenen »Diabolik«-Heftes erschien in einer Auflage von 350 nummerierten Exemplaren im Salon Verlag, Köln (http://www.salon-verlag.de/book/diabolik/).

Auf die Seite 5 seines »Diabolik« hat Polke die Anzeige eines in Hamburg ansässigen Tabu Verlages montiert: »WER DICHTET? Wir bereiten den 4. Band MODERNE DiCHTUNG vor, dafür suchen wir noch einige Gedichte …« Wer dichtet? Der in Berlin lebende Kai Pohl zum Beispiel, von dem jüngst das Buch »Staatenlose Insekten – Cut-ups und Gedichte« erschien (Berlin: Quiqueg Verlag; www.quiqueg-verlag.de). Den Veranstaltern der Linken Buchtage, die vor kurzem in Berlin stattfanden, ist dies entgangen, wie offenbar alles, was als Prosa und Poesie gilt. Ein poetischer Abend war im Buchtage-Programm jedenfalls nicht zu finden. P. P. Zahl konstatierte 1975 in seinem Typoskript »Eingreifende oder ergriffene Literatur«: »Die Literatur- und Kunst-, – ja Sinnenfeindschaft ist ein altes Erbe der Linken. Ein übles (…)

E i n e s der Vorhutgefechte zur Rückeroberung der Sinne ist der literarische Kampf.«

In dem Berliner Revolverblatt »TorTour« schrieb Kai Pohl einst: »Wenn die Wirklichkeit ein finsterer Horrorladen am Rande des Hades ist – dann müssen wir festhalten: ›Diese Wirklichkeit ist nicht außer uns, sondern in uns. Sie ist nicht lesbar, aber gleichwohl müssen wir versuchen, sie zu entziffern.‹« (zit. nach: Bert Papenfuß, Ralph Gabriel (Hg.), »Zwischen Mitte und Spitze. Abriß des allerletzten Revolverblattes in Prenzlauer Berg«. – Berlin: BasisDruck, 2015, S. 78) Dem eben zitierten Werk entnehmen wir auch, dass Kai Pohl als »Ur-floppy-myriapodist«1 an der Neugründnung von Anarchopower beteiligt war. Die Mitglieder von Anarchopower »stümperten in allen ihnen bekannten Metiers des künstlerischen Ausdrucks herum« und »übten Kritik am real existierenden Amüsierbetrieb in den zahlreichen unterhaltungsgastronomischen Einrichtungen der Stadt, am ernsthaften Literaturbetrieb und der Kulturwirtschaft im allgemeinen.« (ibid., S. 17) Ganz Anarcho heißt es dann bei Pohl auch: »Folge der Losung der Tiere. / Sie Scheißen auf den Staat. (…) Generäle, / bis auf den einen, der Streik heißt, / gehen mir am Arsch vorbei.«

Pohl kann Gedicht (Dementi inklusive) und Cut-up: »Abneigung schlägt um in Aneigung« & »Leben ergibt keinen Sinn, wenn nicht / als stimmig geklaute Geschichte«. Die Sinne in bestrickendem Wohllaut umschmeicheln, den erbärmlichen Fortschritt durchzudeklinieren, mit dem Arsch in Richtung Markt zu wedeln, auf dem Scheck & Moor zuhause sind, ist Pohls Sache nicht, diffizile Operationen am Wort oder das Formulieren einer ›Schlammprophetie‹ schon eher: »Begehren wir die volle Lebenszeit bei vollem Lohn, / Schleifen wir den herrschaftlichen Turm.« Die Farce ist angerichtet, die Wahrheit zu vermeiden, bleibt, so lesen wir, ein harter Job. Gewiß doch, wenn gefragt wird: » (M)it welchen Gedanken / kauft ein Frontsoldat / Postkarten für seine Lieben / angesichts einer Gaswolke?« (›Futschikato‹) Das Gedicht ›ISS, 05.08.2007, 22:03 MESZ‹ endet mit der Strophe: »Unten genießt man Idiotenbonus, / offenen Ausschank an offenen Fenstern, / im Auge das Glühen von Weltraumschrott, / bis in die dümmste Unendlichkeit.« Das Land »probt zum Lob der Kernschmelze / den unbeschränkten Wahnübergang / ins Offene, Freund, / wo die Zugluft glüht.« (›Aussicht, geschreddert‹) Und »(e)in kiezbekannter Flachmann / versorgt sich mit liquidem Kapital, / ein Sticker verspricht: ›I will change. I promise.‹« (›Mehr ist nicht drin)‹.

Pohl greift nicht nur mit Worten ein, er denkt zudem auch nach über ›abgewetzte behauptungen und unbrauchbare kommentare zur lage der lüge‹‹, also zur Dichtkunst: »wo (besser wodurch) / entsteht das gedicht?« Oder ist das Gedicht doch nur »LÄCHERLICHES ZEUG«, getippt auf »LÄCHERLICHEN TASTATUREN«, das »IM KALKÜL DER HERRSCHENDEN KEINE ROLLE MEHR SPIEL(T)«?

Beherzigen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Kai Pohls Rat aus ›Ein halbes Paar Socken‹: »Sei der erste, dem das gefällt, / gib deinen Kommentar ein und / verschwende deine besten Jahre / damit, Formulare auszufüllen, / um an Geld zu kommen.« Aus ›BECHA IN TOWN‹ schallt es Dir entgegen: »›ABER DAS IST ZUWENIG‹ JA / IST ES NICHT IMMER ZUWENIG?«

Die Zeitschrift »floppy myriapoda«, herausgegeben vom Subkommando freie Assoziation erschien in Berlin. Nach Erscheinen des Heftes #27 Anfang 2015 ging ein Teil des Subkommandos ABWÄRTS (d. h. zur Postille dieses Namens), der Rest mutierte zum Fanzine. (http://www.floppymyriapoda.de)

Erstveröffentlichung in: junge Welt, 29.06.2016