Wiener Notizen #8

»Wahrscheinlich kann man nur lernen, dass man generell denken soll«.
Frank Witzel, Uneigentliche Verzweiflung

Als ich in den 1980-er Jahren als Buchhändler tätig war, zählte zu den gut verkauften Büchern das Werk »Weibliche« und »männliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse von Marianne Wex. Wex führte ihrer Leserschaft darin u. a. das Manspreading vor Augen, also das breitbeinige Sitzen von Männern. Der Breitbeinige meint wohl, er müsse sein Gemächt zur Schau stellen und er könne sich bei dieser Einedrahra-Sitzhaltung bequemer die Eier kraulen. Mit ihrer online gestarteten Öffi-Kampagne »Sei ein Ehrenmann und halt deine Beine zam!« wollen die Wiener Linien nun dazu beitragen, dass die Männer in Tram, Bus und U-Bahn nicht mehr breitbeinig herumsitzen. Auf Facebook, Twitter & Co. sorgte die Kampagne für Aufsehen und das Satireportal Tagespresse titelte: »Erstmals ohne Manspreading U-Bahn gefahren. Mann fallen Hoden ab.«

Bei den Sondierungsgesprächen zwischen dem österreichischen Kurz- und Neukanzler Sebastian Kurz von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und dem Grünen Werner Kofler über eine mögliche Regierungskoalition hat letzterer wohl die Beine zamgehalten, bezeichnete oe24 ihn doch als »die grüne Braut« von Kurz. Eine Braut sitzt nicht breitbeinig am Verhandlungstisch.

Kurz gab eine Stunde vor Beginn der närrischen Saison grünes Licht für die Koalitionsverhandlungen mit den Grünen. Am Tag zuvor listete der Kurier die Klischees auf, die über die Ökopartei gehegt werden: »Die Grünen sind in unterschiedliche Lager gespalten, sie streiten nur, sind grundsätzlich Spaßbremsen und eine Verbotspartei. Natürlich wollen sie auch das Bundesheer abschaffen, die Polizei entwaffnen, Haschtrafiken öffnen, Autofahrer schikanieren und Fleisch abschaffen. Stattdessen werden nur noch Bio-Körndl serviert. Und das morgens, mittags und abends.« In oe24 formulierte der Ex-Grünen-Chef Johannes Voggenhuber die für ihn entscheidende Frage: »Wie wendig ist Kurz? Kann man jemanden, der eine ›ordentliche Mitte-rechts-Politik‹ machen will, von der viele sagen, dass sie eigentlich nur noch rechts ist, in eine andere Richtung ziehen?« Der Sprecher der grünen Parteijugend, Jaafar Bambouk, wird im Kurier mit den Worten zitiert: »Die ÖVP hat zuletzt eine Politik mitgetragen, die Tausende Menschen im Mittelmeer hat ertrinken lassen, und die im Land Menschen in die Armut treibt.« Rechtsaußen Herbert Kickl von der Freiheitlichen Partei (FPÖ) warnte in einer Wahlkampfrede in der steirischen Grenzregion vor einem »schwarz-grünen Einwanderungsfanatismus«, wenn die Koalitionsverhandlungen in Wien zu einer Regierung zwischen ÖVP und Grünen führen sollten. Unter einer Kurz-und-Kogler-Regierung (kurz K.-u.K.-Regierung) kann dieser Herbert nicht Law-and-Order-Minister werden.

Der Standard gab zu bedenken: »Die Grünen wären aus historischer Sicht gut beraten, sich nebst Klimapolitik auch darauf zu konzentrieren, dass ihnen ein ›Klima-Schicksal‹, wie jenes der SPÖ wie genau vor 20 Jahren, erspart bleibe. Denn einer Neuauflage von Türkis-Blau [also von ÖVP (rechts) und FPÖ (rechtradikal-völkisch)] steht trotz andersartiger Beteuerungen nichts im Wege, am allerwenigsten der Wählerwille.«

Die Wähler, so las ich vor einiger Zeit in der Wiener Zeitung Augustin, »wählen nichts anderes als das, worauf sie von klein auf mittels emotionaler Bindungen an Gadgets, Must-Haves und Popstars in verwalteter Dauerinfantilität gehalten werden. Wie Phrasen mögen diese Ladenhüter der Kulturkritik des 20. Jahrhunderts klingen, doch sie klingen nur so, weil die Herrschaft der Phrase sie als solche markiert hat.« Zu Kurz heißt es dort: »Er ist nicht rechts, er ist gar nichts. Als konzeptueller Schwiegersohn, neokonservatives Pin-up, sichtbares Händchen des freien Marktes und Bonnie Prince Burli der Reichen & Mächtigen. Irgendwo in seiner linken Flanke stecken auch ein paar USB-Buchsen für linksliberale und grüne Anschlüsse. Kein Widerspruch dazu, bei Bedarf weiter einen Orbánismus mit europäischem Antlitz, einen autokratischen Neoliberalismus zu erproben, der sich von Von der Leyen anerkennend ins Rotbäckchen kneifen lässt …«

Die von so manchem Rotbäckchen geschürte mediale Aufregung um die Verleihung des Nobel-Literaturpreises an Peter Handke hält an. In einem Brief kritisierten mehrere Autorinnen und Autoren aber die derzeitige »Anti-Handke-Propaganda«: »Die Kritik an Peter Handke hat längst den Boden vertretbarer Auseinandersetzungen unter den Füßen verloren, sie besteht nur noch aus Hass, Missgunst, Unterstellungen, Verzerrungen und ähnlichem mehr.« Als nun bekannt wurde, dass Handke 1999 mit einem jugoslawischen Pass gereist war, fragte sich so manches österreichische Einraumhirn, ob er dann noch »einer von uns« sei. Es könne ja nicht sein, dass der Nobelpreis einem Schriftsteller verliehen werde, der ein serbischer Jugoslawe, also kein Österreicher mehr sei.

Der Besitz eines Reisepasses sagt allerdings nichts über die Staatsbürgerschaft Handkes aus. Wie Der Standard unter Berufung auf einen Tweet des serbischen Journalisten Milan Šarić berichtete, soll Handke vor zwei Jahren bei einer Passakontrolle in Belgrad einen deutschen Pass präsentiert haben. Ist Handke gar ein Piefke? Vielleicht bewahrt der seit langem in Chaville nahe Versailles wohnende Kärtner in seiner Nachttischschublade auch einen französischen Reisepass auf.

Wolfgang Müller, Inhaber in Berlin ausgestellter Identitätspapiere, Autor, Musiker und Künstler, luden die Wiener Betreiber des Glücksschweinmuseums und Macher der WohnzimmerFilmRevue, Ilse Kilic und Fritz Widhalm, in die Alte Schmiede ein, um dort den bildgestützten Vortrag ›Neue Missverständniswissenschaften – Vom privaten Goethe-Institut Reykjavik (1998) zur Walter von Goethe Foundation (2001) ins Haus der Tödlichen Doris (ab 1988)‹ zu halten. Wolfgang Müller tat also, was er am liebsten tut – er sprach über die geniale Dilletanten-Gruppe Tödliche Doris, und das Wiener Publikum lachte gar sehr, besonders bei der Präsentation des neuesten Projektes von Müller. Der erweckte jüngst die schon lange in mehrere Erscheinungen aufgelöste Doris wieder zum Leben mit der LP-Box das typische ding – reenactment (Major Label). In einem Text dazu heißt es: »Wolfgang Müller fragt sich: Was genau war das eigentlich, das typische Ding? Eine weibliche Brust, ein eigenwillig geformter Phallus oder eine ebensolche Klitoris? War es ein Dildo-Entwurf? Oder doch nur ein ganz gewöhnlicher Penis mit Stützstacheln im Inneren? Im Klangspektrum einunddreißig zeitgenössischer Dildos und Vibratoren wohnen wir 2019 einer Wiederauferstehung von Die Tödliche Doris bei. Sie erscheint uns jetzt als Performerin, Musikerin und Instrument in einem. So nah war uns Doris noch nie. Tabea Blumenschein, ein Bandmitglied der ersten Stunde, fertigte Illustrationen aller 31 Dildos und Vibratoren an. Im Neuköllner Tonstudio von Frieder Butzmann setzte Kulturwissenschaftlerin Katrin Kämpf die Geräte in Betriebs- und Aufnahmebereitschaft.«

Nach Wolfgang Müller sprach in der Alten Schmiede Barbara Eppensteiner über das nachahmenswerte Community-TV-Projekt Okto. Auszüge aus den dort gezeigten Filmen der WohnzimmerFilmRevue folgten unter dem Motto »Wir sind ein Film aus Super 8, uns hat ein Amateur gemacht«, und Kilic und Widhalm präsentierten ihre ›TextRevue zur Organisation literarischen Lebens und Strebens‹, die ihr gemeinsames Leben sind. Sie verkündeten, wenn auch der Morgen gelegentlich »Schrecken atmet«, hat »hoch hinaus niemals recht«.

Weit hinaus nach Krieau ging es am Sonntag zur Messe Buch Wien, wo der Vöcklabrucker Schriftsteller Franzobel auf der ORF-Bühne aus seinem im Jahr 2024 spielenden dystopischen Kriminalroman Rechtswalzer (erschienen im Zsolnay Verlag) las und Flaschenbier trank. In Rechtswalzer gibt es keine K.-u.-K.-, sondern eine rechtsnationale Regierung, die natürlich auch auf dem Wiener Opernball ihr Unwesen treibt. Anwesend ist dort auch Kommissar Groschen, den die Ansammlung von Pinguinen mit Mascherln, Abendkleidern und Turmfrisuren ängstigt. Franzobel, der zu Recherchezwecken den Opernball durch seine Anwesenheit schon mehrmals bereicherte, ersparte seinem Sonntagspublikum eine nähere Beschreibung der dort Versammelten nicht: »Kleinstadtschönheiten in Champagnerlaune. Füllige Matronen, teuer verpackt, pausbäckige Damen, von durchscheinendem Stoff umhüllt. Man machte auf Weltstadtglamour, aber im Aussehen und an der Art zu gehen kam das Bergvolk durch. Das waren knorrige und krumme Beine, gemacht, um über Felssteige zu klettern, durch Wälder zum marschieren, Kuhfladen auszuweichen, in Schweineställen auszumisten, Most oder Wein zu keltern, Kartoffeln zu klauben, aber nicht, um in Tanzschuhen elegant über das Parkett zu fegen. Wie aber erst, wenn sie den Mund aufmachten, dann hörte man Mistelbach, Fladnitz oder Unterstinkenbrunn heraus. Es ist nur gerecht, dass die Reichen nicht auch noch schön sing. Bewegen können sie sich nicht, es ist, als stünde ihnen ihr eigener Körper im Weg … keine Anmut, keine Grazie

Gefallen haben dürfte den aufgedonnerten und -gspritzten Blow-Ins aus Unterstinkenbrunn und anderen Kuhblöken der Standard-Bericht, wonach Wissenschaftler mittels Endoskopie herausfanden, wie pompös Kaiser Friedrich III. in seinem monumentalen Hochgrab des Wiener Stephansdom tatsächlich liegt. Bilder aus dem Inneren der Tumba, die der römisch-deutsche Herrscher schon 1463, also dreißig Jahre vor seinem Ableben, in Auftrag gegeben hatte, zeigen, dass er in einem Sarg aus glasierter Keramik ruht, bedeckt von prächtig gemusterten Samtbahnen, ausgestattet mit Szepter, Reichsapfel und Mitrenkrone und gewürdigt auf vergoldeten Inschriftentafeln, die den Sarg in hoc precisio monomento flankieren.

Neben Buch Wien mussten natürlich auch weitere Konzerte im Rahmen von Wien Modern besucht werden, drei Konzerte des Ensemble Kontrapunkte in Zusammenarbeit mit dem Salon Souterrain, um genau zu sein: Growth I, II und III. Herausragend war dabei die Aufführung der Komposition ›Runner für Ensemble‹ (2016) des Minimalisten Steve Reich. Dem soll die Idee zu diesem Stück, in dem neben den typischen treibend repetitiven Passagen auch melodische Anflüge zu hören sind, beim Anschauen eines Bollywood-Films gekommen sein. Genial ist auch die Komposition ›Stèle für zwei große Trommeln‹ von 1995 des früh verstorbenen Komponisten Gérard Grisey (1946-1998). Die beiden Trommeln werden in vollem Umfang koloristisch benutzt und entfernt voneinander platziert, »um Echospiele, rituelle Effekte und langsame Muster zu erzeugen« (Fabien Lévy). Grisey ging es in dieser Komposition um die Vorstellung von Forschern, die nach einem im Erdreich verborgenen Grabstein buddeln.

Während Kramp-Karrenbauer, die Chefin des deutschen, euphemistisch als Verteidigungsministerium bezeichneten Kriegsministeriums, in der vergangenen Woche forderte, deutsche Truppen müssten verstärkt im nordafrikanischen Wüstensand rommeln und auch anderswo militärisch aktiv werden, rückte das österreichische Bundesheer am Morgen des 11. November aus, um auf dem Jüdischen Friedhof im Wiener Stadtviertel Währing Wege begehbar zu machen, Grabsteine aufzurichten und kranke Bäume zu fällen. Dieser Friedhof diente der jüdischen Gemeinde Wiens von 1784 bis 1879 als Begräbnisstätte. Später erlaubte die nationalsozialistische Stadtverwaltung die Zerstörung von Grabsteinen sowie die Exhumierung vieler Leichen. Die 200.000 Juden, die bis zum 11. März 1938 In Österreich lebten wurden verfolgt, gedemütigt, beraubt, vertrieben und umgebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so der Historiker Tim Corbett, habe sich Österreich geweigert, die Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu tragen und die Versuche von jüdischen Überlebenden behindert, sich um Wiedergutmachung zu bemühen. Darunter fiel auch die Wiederinstandsetzung der Friedhöfe. Die wenigen Wiener Juden, die den Holocaust überlebt hatten, konnten die Aufgabe nicht bewältigen, sich der Gräber ihrer Vorfahren anzunehmen.

Der Währinger Friedhof, in dessen Epoche seiner Nutzung »bahnbrechende Entwicklungen fallen, die bis heute den Charakter der Stadt, aber auch der gesamten Region und des Staates bestimmen« (Tina Walzer), bietet einen traurigen Anblick, die meisten Grabsteine sind umgestürzt, die Einfriedungen zertrümmert. Was Zeit und Natur nicht gelang, besorgte das Zerstörungswerk von Neonazis.

Es sei zweifelhaft, so Corbett, ob diese Biedermeier-Anlage nach siebzig Jahren Vernachlässigung überhaupt noch instandgesetzt werden könne: »Ich glaube, dieser Friedhof wird ein Mahnmal bleiben – für die Leistungen der jüdischen Gemeinschaft in Wien, die Gräuel des Nationalsozialismus, aber auch die kalkulierte Zurückhaltung der österreichischen Nachkriegsregierung, sich mit der Rolle Österreichs in den Verbrechen der Nazis auseinanderzusetzen.«