Der Irische Osteraufstand von 1916 – 3 Fragen, 3 Antworten (Teil 2)

Interview von Jürgen Schneider mit dem irischen Schriftsteller Liam Mac Cóil

Jürgen Schneider: Die Irish Citizen Army (ICA) entstand aus dem Kampf zwischen Arbeitern und Unternehmern während der Großen Aussperrung von 1913 – die erste europäische Arbeitermiliz. Der Schriftsteller Sean O’Casey war eines der bekanntesten Mitglieder dieser Organisation. Als James Connolly, Sozialist und Internationalist, der das legendäre Transparent mit der Aufschrift »We Serve Neither King Nor Kaiser But Ireland« an der Liberty Hall in Dublin anbringen ließ, 1914 Kommandant der ICA wurde, ließ er niemanden in Zweifel über seine Intentionen. Er hatte beschlossen, dass – falls es notwendig sein sollte – die Citizen Army allein einen Aufstand wagen würde in der Hoffnung, den militanteren Flügel der Irish Volunteers auf den Weg der Revolte zu bringen. Die Mitglieder des Militärrates der Irish Republican Brotherhood (IRB) sprachen schließlich mit ihm (es heißt, Connolly sei zu diesem Zweck »entführt« worden) und weihten ihn in ihre Auftstandspläne ein. Connolly versicherte, er werde keinen Alleingang unternehmen. Er wurde Mitglied der IRB und in deren Militärrat aufgenommen.

Zu jener Zeit lebten ungefähr 125.000 der 320.000 Einwohner Dublins in Slums. In ›The Slums and the Trenches‹ (Workers’ Republic, 26. Februar 1916) schrieb James Connolly: »Diese Slums sind weltweit bekannt, weil sich in ihnen Krankheiten ausbreiten. In der ganzen Welt weiß man, dass die Armen Dublins unter Wohnbedingungen leben müssen, die schlimmer sind als die irgendeines anderen Volkes auf Gottes Erde. Unsere armen, fehlgeleiteten Brüder aus diesen Slums wurden geblendet und getäuscht, um für Enland in die Schlacht zu ziehen – um Krieg gegen die deutsche Nation zu führen…«

Als am Ostermontag 1916 der Aufstand erfolgte, waren die Volunteers sowie die Kämpfer der Citizen Army mit extremer Feindseligkeit nicht nur pro-britischer Elemente, sondern auch von einem Teil der Dubliner Bürgerschaft konfrontiert, den sie als »separation women« oder »Pöbel« aus diesen Slums identifizierten. Der Volunteer Thomas MacCarthy, der an der Besetzung von Roe’s Distillery beteiligt war, erinnert sich: »Als wir versuchten, das Tor aufzubrechen, wurden wir praktisch vom Pöbel in der Bow Lane angegriffen, und das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. ›Runter mit Euren [Drecks-] Gewehren‹, riefen sie, ›wir werden die Scheiße aus Euch raus prügeln. Sie bedrohten unsere Jungs mächtig.« Dies ist nur eine der vielen Aussagen, die sich in der Sammlung des Büros für Militärgeschichte befinden und von der intensiven Feindschaft berichten, die zwischen den Aufständischen und den ärmsten Klassen existierte (und keineswegs nur in Dublin), die während der Jahre des Ersten Weltkrieges auf die Unterstützungsleistungen der britischen Regierung angewiesen waren.

Warum wurde die Klassenfrage in der Analyse des Osteraufstandes ausgeblendet? Warum bezeichneten die Aufständischen die armen Klassen als »Pöbel«? In der traditionellen marxistischen Theorie wird das Lumpenproletariat als der niederste, am meisten entwürdigte Teil des Proletariats angesehen, als Leute, von denen es heißt, sie verfügten über kein Klassenbewusstsein und könnten daher nicht aktiv an der Revolution teilnehmen. In Die Verdammten dieser Erde, veröffentlicht 1961, unterzieht Frantz Fanon Nationalismus und Imperialismus einer umfassenden Kritik und zeigt auf, wie die Sprache zur Herausbildung imperialistischer Identitäten eingesetzt wird, etwa in die vom Kolonisator und Kolonisierten, um beide psychologisch auf ihre jeweilige Rolle als Herr und Sklave einzustimmen. Fanon hat angeregt, dass die Revolutionäre sich der Hilfe des Lumpenproletariats versichern sollten, um über die notwendige Kraft zu verfügen, die Kolonisatoren zu verjagen.

Liam Mac Cóil: Vor vielen Jahren sprach ich mit einem Freund aus der Bretagne über irische Politik. Die irische Politik, so sagte er, sei ungewöhnlich, weil es in Irland anders als im übrigen Europa keine Links-Rechts-Spaltung gäbe. Die wesentliche politische Teilung in Irland sei nicht nach Klassen erfolgt, sondern basiere auf den Aufspaltungen des Bürgerkrieges (1922/23). Als wir dann die Folgen des Unabhängigkeitskrieges diskutierten – das Abkommen, den Irischen Freistaat, die Partei Fianna Fáil, die zunächst dagegen und dann dafür war, den Treueeid auf die Krone von England zu leisten (was damals Voraussetzung war, um ins irische Parlament, Dáil Éireann, einziehen zu können) sowie die Regierungsbildung im Jahre 1932 – waren wir uns einig, dass allem Anschein nach nicht so sehr für Freiheit, sondern für Respektabilität gekämpft worden war. Man wird an die Bemerkung von Thomas Mann über seinen Bruder Heinrich erinnert, der 1918 den Rat Geistiger Arbeiter in München unterstützte, er sei »nichts als ein Altdemokrat kelto-romantischer Prägung« und betrachte »die bürgerliche, parlamentarische Republik im Grunde als den Rahmen, innerhalb dssen die Menschheit unendlich fortschreiten kann.«

Wie bereits erwähnt, wurde der Osteraufstand von einer Geheimorganisation, der Irish Republican Brotherhood, unter der Führung von Thomas Clarke und Seán Mac Diarmada initiiert. Die IRB war im Grunde genommen eine retrogressive bürgerliche Organisation. Trotz der Tatsache, dass ein Führungsmitgleid und einstiger Sekretär des Obersten Rates der IRB, Fred Allen (1861-1937), von seiner Lektüre des Marxschen Kapitals inspiriert war und Kontakte zu Anarchisten in London geknüpft hatte, spielten Marxismus, Kommunismus oder Sozialismus in der offiziellen Ideologie der IRB keine Rolle.1 Das einzige Ziel der IRB war die Unabhängigkeit Irlands von England. Alles andere war »unerheblich«. Vermutlich zielten sie auf die Errichtung einer »bürgerlich-parlamentarischen Republik« ab. Einer der aussergewöhnlichen Aspekte der IRB war das nahezu vollständige Fehlen einer öffentlich formulierten Politik. Abgesehen von der Proklamation von 1916 selbst kenne ich keine umfassende Darlegung, was für eine Republik die IRB errichten wollte. Ich kenne keine Ausführungen, was die IRB in Sachen Kapital und Arbeit, bessere Wohnverhältnisse, Gesundheit, Ausbildung oder Kultur zu erreichen hoffte. Die IRB war gegen landlords und landlordism (gegen die Grundherren und das Grundherrenwesen), mir sind allerdings keine detaillierten Ausführungen bekannt über Grundeigentum oder Verteilung desselben, über Industrie, Arbeiterrechte oder –eigentum. Die IRB formulierte keine Politik in Sachen irische Sprache und keine Position gegenüber den Unionisten im Norden Irlands. Präsident der 1916 eingesetzten Regierung war Pádraig Mac Piarais (Patrick Pearse), wenn auch Frau Clarke erklärte, ihr Mann Tom sei der wirkliche Präsident gewesen. Es wurde nur ein Präsident bestimmt, Minister wurden nicht berufen.

Seán Mac Diarmada, der wesentliche Organisator des Aufstandes, war sehr von der IRB geprägt. In seinen öffentlichen Reden konzentrierte er sich vornehmlich auf die Bemühungen der Vergangenheit durch Patrioten wie Robert Emmet, die Freiheit Irlands zu erreichen, und sehr wenig darauf, welche Gestalt eine zukünftige Republik haben würde. Nur das hingebungsvolle und zielstrebige Engagement für die Sache der irischen Freiheit zählte. Es heißt, Mac Diarmada habe mindestens ein Mitglied aus der IRB ausgeschlossen, weil dieses die Sache der Arbeiter über die der Freiheit gestellt habe. Die IRB hielt sich von dem Streik und der Aussperrung von 1913 fern, und vor 1916 gingen Volunteers und IRB kein engeres Bündnis mit der Irish Citizen Army ein. Soweit wir wissen, gehörten marxistische Vorstellungen über die Rolle der Arbiterklasse, geschweige denn über die Bedeutung des Lumpenproletariats, nicht zur Ideologie der IRB oder Mac Diarmadas und Clarks.

Anfänglich existierte ein gewisser Antagonismus zwischen der ICA und den Volunteers. Dieser ging zum Teil auf die aggressiven Artikel zurück, die Seán O’Casey in The Irish Worker veröffentlicht hatte. Im September 1914 wurde jedoch ein Übereinkommen zwischen Connolly und der IRB erzielt. Die kurzlebige Irish Neutrality League wurde in Opposition zu dem kurz davor erklärten Krieg ins Leben gerufen, und Connolly und die IRB kamen heimlich überein, vor Ende des Krieges in Irland einen Aufstand zu wagen. Seán O’Caseys Meinung nach bewegte sich Connolly vom schmalen Weg des Sozialismus auf die weitaus populistischere Straße des irischen Nationalismus. The Reconquest of Ireland (1914) ist jedoch ein genuines sozialistisches Dokument, Connollys Synthese von der Sache der Arbeit und der Sache Irlands. Der Kapitalismus ist nicht nur der Feind des Arbeiters, sondern ebenso der Feind der irischen Unabhängigkeit und der der irischen Sprache. Es war daher nicht überraschend, dass die ICA im August 1915 unter Connollys Kommando an der Beerdigung von Ó Donabháin Rosa teilnahm, bei der Pádraig Mac Piarais (Patrick Pearse) seine berühmte Rede hielt, die als Prolog zum Aufstand im Jahr darauf angesehen wird. Connolly schrieb, die ICA strebe eine unabhängige irische Republik an, und Ende 1915 wurde er zunehmend ungeduldig, schien doch Eoin Mac Néill, der Anführer der Volunteers gegen eine Insurrektion zu sein. Er war sich offenbar nicht bewusst, dass der Militärrat der IRB, mit dem er ein Jahr zuvor Gespräche geführt hatte, die Kontrolle über die Volunteers ausübte. Connollys zum Ausdruck gebrachte Ungeduld und seine Entschlossenheit, die Citizen Army allein aufzubieten, hatten dem Militärrat der IRB die Notwendigkeit ernsthafter Verhandlungen vor Augen geführt. Er musste Connolly und die ICA auf Linie mit seinen eigenen Aufstandsplänen bringen, die zu Beginn des Jahres 1916 längst geschmiedet waren.

Wurde Connolly von Seán Mac Diarmada und der IRB entführt? Das ist unwahrscheinlich, führt man sich Connollys starke Persönlichkeit und Mac Diarmadas Liebenswürdigkeit vor Augen. Connolly fuhr von der Liberty Hall bereitwillig in dem ihm zur Verfügung gestellten Wagen los und kehrte zwei Tage später erschöpft, aber guter Dinge zurück. Es hat in diesen zwei Tagen offenbar eine lange und ernsthafte Diskussion zwischen Connolly und Mitgliedern des Militärrates gegeben. Wir wissen nicht genau, was diskutiert wurde, es kann jedoch wenig Zweifel daran geben, dass das Hauptthema der geplante Aufstand war. Wir wissen, dass Pádraig Mac Piarais (Patrick Pearse) Connolly ein signiertes Exemplar von An Mháthair agus Scéalta eile, datiert 20. Januar ’16, überließ. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie Connolly auf die Errichtung einer Arbeiterrepublik insistierte, und Mac Diarmada und die IRB antworteten, wenn das irische Volk dies wolle, hätten sie keine Einwände. Zu dem Ziel der IRB, ein unabhängiges Irland zu schaffen, gehörte, dass das irische Volk entscheiden sollte, welche Regierungsform es will. Diese Aussage hätte eine Täuschung oder gar eine List von Mac Diarmada sein können, doch sie korrespondierte mit ähnlichen Formulierungen, die Connolly ein paar Monate zuvor in The Workers’ Republic verwendet hatte: Er wolle ein unabhängiges Irland, das von den Männern und Frauen Irlands regiert werde. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in einem freien Irland für irgendeine Form eines marxistischen Staates votiert hätte. Die katholische Kirche stellte sich gegen Marxismus und Kommunismus, und die meisten irischen Arbeiter wären der kirchlichen Vorgabe gefolgt. Mein Großvater, ein engagierter Gewerkschafter, der früh der Labour Party beitrat, hätte in der Enzyklika von Papst Leo XIII., Rerum Novarum (1891), einen deutlicheren Hinweis auf die Art der von ihm gewünschten Arbeiterrechte gesehen als im Kommunistischen Manifest, das er vermutlich nie gelesen hat. Selbst Connolly führte aus, wenn die römisch-katholischen Lohnherren von Dublin nichts anders täten, als die Vorschläge des Papstes umzusetzen, würde sich die elende Situation des irischen Arbeiters deutlich verbessern.

Wie die Irischsprecher Mac Piarais (Pearse) und Ceannt verpflichtete sich auch der Sozialist Connolly der anglophonen, bürgerlich-demokratischen IRB-Republik. Das kann man ihnen kaum vorwerfen, waren sie doch alle der Meinung, eine unabhängige irische Republik wäre das beste Mittel zur Erreichung ihrer Ziele, und faktisch war die IRB die einzige Organisation in Irland, die aktiv daran arbeitete, eine solche Republik ins Leben zu rufen.

In gewisser Weise erlagen alle einem wishful thinking. Die IRB übte die Kontrolle aus, und die Bereiche, in denen z. B. Connolly seinen größten Einfluß ausübte, waren ungenügend entwickelt. In The Insurrection in Dublin, einer lebendigen Darstellung der Osterwoche durch einen Außenstehenden, machte sich James Stephens Gedanken darüber, dass die irische Arbeiterschaft »über keinerlei Selbstbewusstsein« verfügte. Ihr Einfluß auf die Volunteers war minimal. Es lohnt sich, ihn zu zitieren:

Das organisierte Ungehagen der Arbeiter in Dublin und in Irland war nicht ausgeprägt genug, um den Volunteers ihre Ziele oder Ansichten nahe zu bringen, und es ist das Arbeiterideal, das sich mit dem nationalen Ideal vermischt und darin verschwindet. Allen Anführern der Insurrektion, einschließlich Connolly, wird nachgesagt, sie seien sehr patriotische Iren gewesen, und auch – hier wurde Connolly jedoch ausgenommen – sie hätten sich nicht besonders für die Probleme der Arbeiterschaft interessiert. (1)

Liam Ó Briain erinnert sich in seinen Memoiren, Cuimhní Cinn, er habe als Irish Volunteer vor dem Aufstand nichts mit der Citizen Army zu tun gehabt, obwohl die Volunteers im allgemeinen die ICA wegen ihrer militärischen Ausbildung und ihres gekonnten Umgangs mit Waffen bewundert hätten. Die Volunteers setzten sich am Ende durch, und die ICA ging während des Unabhängigkeitskrieges allmählich in der IRA auf, ohne jedoch ihren Namen aufzugeben. Den Arbeitern wurde mitgeteilt: »Ihr müsst warten.« Diese Mitteilung ist längst zum geflügelten Wort geworden.

Es ist klar, dass ein Klassenbewusstsein im marxistischen Sinn in der breiten Masse der Voluteers nicht existierte, und es mag der Fall sein, dass es auch unter vielen ICA-Mitglieder wenig ausgeprägt war. Viele Volunteers, darunter eine Reihe von Handwerkern, sahen sich wohl einer höheren Klasse zugehörig als der einfache Arbeiter, es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie dem Lumpenproletariat antagonistisch gegenüber standen. Um gegenüber den Volunteers fair zu sein: Die Tatsache, dass sie Frauen, die sich gegen sie stellten, »einen Pöbel« nannten, ist vielleicht lediglich ein Anzeichen dafür, wie sich ihnen die »separation women« bei diesem besonderen Anlass präsentierte. Es sei daran erinnert, das James Joyce seinem Essay, in dem er die Zuschauer kritisierte, die bei der Aufführung des Yeats-Stückes Countess Cathleen protestierten, die Überschrift »Der Tag des Pöbels« gab. Es ist unwahrscheinlich, aber möglich dass Thomas MacCarthy das Wort »Pöbel« verwendete, um eine ganze Klasse zu beschreiben. Andererseits werden durch die Charakterisierung der »separation wives« als »pro-britisch« nicht wenige Komplexitäten unter den Teppich gekehrt. Wie es scheint, waren sie auf eine sehr persönliche und ortsgebundene Weise pro-britisch. Stephens notierte: »Allein in Dublin gibt es kaum einen armen Haushalt, von dem nicht ein Vater, ein Bruder oder ein Sohn an einer der vielen Fronten dient, an denen England kämpft.«2 Dieses Pro-Britisch impliziert keine Unterstützung des britischen Imperialismus, im Gegenteil, diese Männer kämpften nicht für England, sondern – falls irgendeine Erwägung jenseits des Überlebens in einer der schlimmsten Slum-Städte des Britischen Empires überwog – für die Selbstbestimmung Irlands (Home Rule). Die irischen Soldaten in der englischen Armee taten das Ehrenwerte und setzten sich für den irischen Teil der Abmachung ein – sie kämpften für die Engländer, die im Gegenzug den Iren die Freiheit gewähren würden. Sie fielen den Engländern nicht in den Rücken. Die Tatsache, dass dies eben jene sklavische Haltung zu sein schien, gegen die sich Connolly und die IRB erbittert wandten, sowie das Faktum, dass sie die Haltung Redmonds alles andere als ehrenwert sowie das vorliegende Angebot der Home Rule als zu wenig für die Unabhängigkeit des ganzen Landes erachteten, hatten nicht viel Einfluss auf die Ansichten vieler Soldatenfrauen, -mütter und -töchter.

Warum ist die Klassenfrage in der Analyse von 1916 mehr oder weniger außer Acht gelassen worden? Immerhin ist sie nicht gänzlich ignoriert worden. Es gibt Studien über die Herkunft der Volunteers, über ihre Tätigkeiten, Berufe etc. Einen guten Überblick über das, was über die Gewerkschaftsbewegung, Sozialismus und die Arbeiterklasse geschrieben wurde, gibt Diarmaid Ferriter in seinem Buch A nation and not a rabble (2015, Kapitel 9). Im Großen und Ganzen haben die Kommentatoren des Aufstandes sich offenbar die Haltung jenes Teiles der am Aufstand Beteiligten zu eigen gemacht, der sich am Ende durchgesetzt hat, d. h. jener Teil, der nach 1922 die Basis für die aufeinander folgenden Regierungen bildete, sowohl ideologisch wie (zumindest zu Beginn) personell: die Irish Republican Brotherhood und die von ihr ins Leben gerufene Bewegung der Volunteers. Doch nicht nur das, vielleicht sehen Historiker keine Notwendigkeit einer marxistischen Analyse von 1916, hat doch der Marxismus kaum eine bzw. gar keine Rolle im Denken der IRB sowie der Volunteer-Bewegung gespielt.

Zieht man die Rolle in Betracht, die James Connolly nicht nur für den Aufstand, sondern auch bei der Gründung und Organisierung der ICA gespielt hat, sowie die Tatsache, dass er einer der wenigen Anführer war, in dessen Schriften diese Ideologie zum Ausdruck kommt (Mac Piarais/Pearse war ein weiterer), hätte man vermuten müssen, dass dieser Analyse der Revolution und der Rolle, die seiner Auffassung nach die Arbeiterklasse, einschließlich des Lumenproletariats, darin spielte, mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde. Im Gegensatz zur IRB beschrieb Connolly viele der Grundzüge der Republik, auf die er hinarbeitete. Doch außer Diskussionen über militanten Republikanismus und die weitgreifende »nationale« Frage, hat die etablierte Geschichtswissenschaft keine Analyse der Ziele und Ideologien der Anführer des Osteraufstandes geleistet. Mit Connolly und Larkin haben sich allerdings einige der von Ferriter genannten Autoren auseinandergesetzt (z. B. Donal Nevin und Emmet O’Connor).

Im allgemeinen wird allerdings nicht nur einer solche Analyse aus dem Weg gegangen, werden Klassenfragen3 ignoriert, sondern der gesamte Aspekt Sprache wird im Zusammenhang mit dem Osteraufstand kurzerhand ausgeblendet, indem man den erklärungsbedürftigen und leicht abfälligen Begriff vom »Irischen Irland«« verwendet. Mit anderen Worten, jene Aspekte des Aufstandes, die nicht von Erfolg gekrönt waren, werden im allgemeinen von den Historikern ignoriert. Natürlich ist nicht klar, in welchem Maße, wenn überhaupt, eine dialektische Analyse von den an den Ereignissen von 1916 Beteiligten vorgenommen wurde. Selbst Connolly schreibt mit einem breiten sozialistischen Stift. Hegel gehört nicht zum intellektuellen Equipment. Ich kenne auch keine Analyse von 1916, die etwa auf den Frühschriften von Marx oder auf den Vorstellungen von einem »westlichen« Marxismus basieren würde. Eine irische Version von Geschichte und Klassenbewusstsein gibt es meines Wissens ebenso wenig wie irische Quaderni del carcere.

Erwähnt werden müssen jedoch die Schriften des englischen Marxisten Charles Desmond Greaves (1913-1988), mit denen sich Ferriter ebenfalls auseinandersetzt. In den 1950er Jahren verfasste Greaves das Werk The Life and Times of James Connolly, in dem er just die Frage erörterte, die zuerst Seán O’Casey zur Sprache gebracht hatte: Entfernte sich Connolly vom Sozialismus, indem er sich auf den nationalen Pfad begab? Laut Greaves überwog sein Nationalismus nicht seinen Sozialismus, sondern er versuchte die Basis zu finden, auf der Sozialismus die beste Chance auf Erfolg hatte – ein unabhängiges Irland. Greaves schrieb auch eine Studie über Seán O’Casey, Politics and Art, sowie ein Buch über die Lieder und Balladen des Osteraufstandes und eine Biographie des Volunteers und Sozialisten Liam Mellows, Liam Mellows and the Irish Revolution.

Übersetzung: Jürgen Schneider

  1. James Stephens, The Insurrection in Dublin. – New York: Macmillan, 1917, S. 128/29. 2) ibid., S. 116 3) Zur Klassenfrage und zur Zunahme der Arbeitermilitanz zwischen 1916 und 1923 siehe: Emmet O’Connor, ›Red Flag Times‹, in: Jacobin, Heft 21(»Between the Risings«), New York, Frühjahr 2016, S. 47-55 (das Heft erschien nach Beendigung des Interviews). Laut O’Connor arbeiteten laut einem Zensus von 1911 sieben von neun Lohnabhängigen im nicht gewerkschaftlich organisierten »Subsistenzlohn-Sektor«, wie etwa in der Land- und Hauswirtschaft. Gewerkschaftich organisiert waren 1911 lediglich 50.000 Arbeiter. (S. 47) Nach 1914 sanken zunächst die Reallöhne der irischen Arbeiter, obwohl die Unternehmer von der britischen Kriegswirtschaft profitierten. Besserungen für die Lohnabhängigen traten durch staatliche Interventionen in die Industrien ein, die in die Kriegswirtschaft eingebunden waren. (S. 50)