Interview von Jürgen Schneider mit dem irischen Schriftsteller Liam Mac Cóil
Jürgen Schneider: Wenden wir uns James Joyce zu, über seinen Text ›Der Tag des Pöbels‹ hinaus, den er im Oktober 1901 schrieb und in dem es heißt: » Als das Irish Literary Theatre sich (…) den Trollen unterwarf, hat es die Leine, die es mit dem Fortschnitt verband, durchschnitten.«1 Im letzten Teil von Finnegans Wake, seiner großen »Acomedy of letters«, in der Joyce das Englische dekonstruiert, um ein » panorama of all flores of speech« zu schaffen und in dem der »Eireweeker« mehr ist als nur der Earwicker, dem wir im gesamten Text begegnen – der »Eireweeker« ist der Osteraufstand von 1916.
Der Anfang dieses letzten Teils ist stark durch Sanskrit geprägt, der Sprache der hinduistischen und buddhistischen Werke, in denen die Vorstellung von den kosmischen Zyklen der nicht endenden Zeit formuliert ist. »[N]oughttime« in the »seemetery« is over and the body undergoes a ressurection into the sun’s day: »Array! Surrection!« In seinem Artikel ›Die Fenier-Bewegung‹ (veröffenlicht am 22. März 1907 in der in Triest erscheinenden irredentistischen Zeitung Il Piccolo della Sera2), schrieb Joyce, dass die Fenier-Bewegung konstatiert »(und in dieser Argumentation gibt die Geschichte ihr gänzlich recht), daß England Irland alle Zugeständnisse immer nur widerwillg gewährt hat, mit aufgepflanztem Bajonett, wie man so sagt.« Laut Joyce »ist es nunmehr unmöglich, dass eine extremistische und blutige Doktrin wie die der Fenier überleben kann.« Eine neue, im 20. Jahrhundert entstandene Form des Feniertums scheint Joyce Interesse zu wecken – die neuen Fenier, die sich in einer Partei mit dem Namen »Wir Selbst« (Sinn Féin) zusammengeschlossen haben. »Es ist immer noch eine separatistische Doktrin, aber sie kommt nun ohne Dynamit aus.« Im Zyklopen-Kapitel des Ulysses (geschrieben zu einer Zeit, da der Osteraufstand sich ereignet hatte, wovon die Protagonisten des Romans allerdings nichts wissen konnten) stattet Joyce den »Bürger«, eine Chú Chulainn -Figur3, mit einer Reihe von nationalistischen Ansichten aus und kritisiert ihn heftig. Der »Bürger« wendet sich militant gegen die Hybridisierung der irischen Kultur und befürwortet Gewalt, um die politische Unabhängigkeit von England zu erlangen. Joyce rückt ihn nicht nur in die Nähe der drei prominentesten katholischen Nationalisten des Irischen Revivals – Michael Cusack4, D. P. Moran5 und Arthur Griffith6 – sondern nimmt auch die Stilmittel der Historiographie des Revivals (O’Grady7 und andere) sowie dessen Poesie und Übersetzungen ins Visier. »Welcher Nation gehören Sie denn an, wenn ich fragen darf?« sagt der Bürger. »Irland, sagt Bloom. Ich bin hier geboren. Irland.« Für ihn ist eine Nation nichts Abstraktes. »Eine Nation?« fragt Bloom. »Das sind die Leute, die am selben Ort wohnen.« Nur um einen Augenblick später hinzuzufügen: »Oder auch Leute, die an verschiedenen Orten wohnen.« In seiner Joyce-Biografie schreibt Andrew Gibson8: Bloom, der ziemlich gut assimilierte Jude, »bekräftigt, dass er Ire ist. Dies ist für Joyce entscheidend. Was auch immer seine Sympathien für Arthur Griffith und Sinn Féin gewesen sein mögen – und in geringerem Maße für D. P. Moran und The Leader – Joyce wandte sich entschieden gegen die verheerend engen Vorstellungen von irischer Nationalität. Er wusste, dass deren Übergänge in Bigotterie die logische Konsequenz aus der kolonialen Geschichte Irlands waren, nicht zuletzt aus einer rassistischen Denkweise, die englischen Ursprungs war und mindestens bis auf die Invasoren der Tudor-Zeit zurückging.«
Beim Zensus des Jahres 1901 beschrieb sich Joyce als Irischsprecher. In späteren Jahren sagte er: »Hätte das irische Programm nicht auf der irischen Sprache beharrt, könnte ich mich wohl einen Nationalisten nennen. Unter den gegebenen Umständen bin ich zufrieden, mich als Exilanten bezeichnen zu können.« Und unter Bezugnahme auf Finnegans Wake erklärte er: »Je suis au bout de l’anglais.« Joyce fährt mit der Beschreibung von Griffiths Sinn Féin fort und führt aus: »Sie wollen Irland zu einer zweisprachigen Republik machen und haben zu diesem Zweck eine direkte Fährverbindung zwischen Irland und Frankreich eingerichtet.« Die moderne irische Staats- und Wortkunst, so scheint er sagen zu wollen, könnte das republikanische Frankreich und moderne europäische Sprachen als Modell nehmen und nicht notwendigerweise das alte Irland und das Gälische.
Wie würden Sie James Joyce ihre Einschätzung erklären, die Sie mir vor einiger Zeit mitgeteilt haben: die Aufständischen von 1916 hätten nicht gesehen, dass die von ihnen gewählte (englische) Sprache letzten Endes das von ihnen gebrachte Opfer unterminieren würde?
Liam Mac Cóil: Das ist eine sehr gute und interessante Frage und eine Herausforderung, da sie in den Kontext einer imaginierten Konversation mit James Joyce eingebettet ist. Was immer auch über Joyce und seine Begegnung mit Tzara und Lenin in Zürich behauptet wird, ich halte es aufgrund der Naturgesetze, wie wir sie gegenwärtig kennen, für höchst unwahrscheinlich, dass er mir je begegnet ist. Auch nicht, so weit mir bewusst ist, als ich vor ungefähr fünfzehn Jahren während der Street Parade in Zürich das Café Odéon besucht habe. Dennoch will ich mir, inspiriert von Ihrer Frage und ermutigt von Paul Ruggiero, eine Begegnung mit dem großen irischen Intellektuellen im Exil vorstellen, sagen wir bei einem oder zwei Glas Fendant. Ruggiero war ein Schüler von Joyce in Zürich und wurde ein enger Freund von ihm. Richard Ellmann9 schreibt: »Der bei einer Bank angestellte Ruggiero war ein einfacher, bescheidener Mann, der Joyce ebenfalls einfach und bescheiden fand.« Einfach, bescheiden, höflich und gastfreundlich und allem Anschein nach erfreut, meine Bekanntschaft zu machen, bestellte Joyce zwei Glas seines Lieblingsweines, und ich begann ihm zu erklären, warum die vor einiger Zeit erfolgte Rebellion als Vorstoß zur irischen Unabhängigkeit gescheitert ist – eine Position, die zu teilen er wohl nicht sehr geneigt war. Es mag seltsam erscheinen, aber ich finde die Aufgabe nicht zu schwer.
Zunächst konstatiere ich, dass die Vorspiegelung falscher Tatsachen und Täuschung keine gute Basis für die Ausrufung einer Republik sind. Die Irish Republican Brotherhood (IRB) tat gegenüber ihren Irisch sprechenden Mitgliedern so, als sei es das Ziel der Organisation, einen bilingualen Staat ins Leben zu rufen. In den Worten von Joyce, der sich auf Gedichte von William Rooney10 bezog, war dies »falsch und gemein«. Selbst wenn wir Seán Mac Diarmada11 einen gewissen Grad an Aufrichtigkeit zubilligen und ihm abnehmen, dass er für das Wiederaufleben des Irischen war, so blieb er doch extrem vage, was dies heißen sollte, und als es um militärische Aktion ging, tat er sehr wenig, sie zu befördern. Im Gegenteil, wie wir gesehen haben, sorgte er bei dem Vorbereitungstreffen, bei dem über die Gründung der Volunteers diskutiert wurde, dafür, dass Englisch zur Sprache der Entscheidungen und der Anordnungen erhoben wurde. Was die Planung des Aufstandes von Tag zu Tag anbelangt, beginnt die Unterminierung hier.
Derjenige, der sich der englischen Sprache bedienen und gewinnen würde, wäre ein äusserst seltenes Genie, so fahre ich fort, ein wenig schmeichelnd, wie ich hoffe. Es gibt nur sehr wenige Leute, die das Englische so sehr beherrschen, dass sie mit einiger Berechtigung sagen können, an dessen Ende angelangt zu sein. Entweder du beherrschst Englisch oder Englisch beherrscht dich. Liber legit lectorem. (Sehe ich Joyce lächeln, weil er mir mehr oder weniger zustimmt, während er einen weiteren Schluck Fendant nimmt? Vielleicht erinnert er sich an den Dekan seiner alten Universität.) Die Beherrschung des Englischen ist kein Spruch, sage ich, sondern ein Faktum. Mir ist nicht bekannt, dass einer der am Osteraufstand Beteiligten für sich hätte beanspruchen können, das Englische in diesem Sinne zu beherrschen. Pádraig Mac Piarais (Patrick Pearse) war ein ausgezeichneter Rhetoriker, doch Irisch war die Sprache, die er zu der seinen machte. Und doch sprachen er und die anderen Mitglieder des Militärrates Englisch und schlossen die einzige Sprache aus, die sie einigermaßen beherrschten, die Sprache, die sie die ihre nannten – Irisch.
Was für den Einzelnen zutrifft, trifft auch für eine kleine Gemeinschaft zu, auch für eine, die mehr als 3 Millionen Menschen zählt, wie die Bevölkerung Irlands um das Jahr 1916. Doch nehmen wir die kleinere Gemeinschaft der Irish Volunteers als zur Debatte stehenden Punkt. Der Irisch sprechende Freiwillige wurde von der IRB-Führung auf exakt die gleiche Weise behandelt wie Redmonds Rekruten der National Volunteers von der britischen Armee: keine getrennten Insignien oder Flaggen, keine gemischten Divisionen oder Korps – mit anderen Worten, keine Anerkennung der Tatsache, dass eine solche Person wie ein Irisch sprechender Freiwilliger existierte. Ihr Handbuch war das Britische Infantrie-Manual, und glühende Verfechter der irischen Sprache, wie Piaras Béaslaí, versuchten ihr Bestes, damit dieses Manual übersetzt wird und es irische Versionen der Anordnungen und Befehle gibt. Laut einigen Mitgliedern der Gaelic League wurden die Volunteers zu einer weiteren Kraft bei der Anglisierung Irlands, indem sie zum Beispiel das Englische in einer nie zuvor dagewesenen Weise in Gebiete trugen, in denen Irisch gesprochen wurde. Die Volunteers trieben jenen Prozess mächtig voran, den einige ihrer Anführer durch den Osteraufstand von 1916 zu stoppen hofften. In dieser Täuschung – laut William Rooney »der Inkonsistenz, ein Interesse am Irischen wecken zu wollen, aber ausschließlich Englisch zu sprechen« – können wir die grundlegende Unterminierung der Ideale, etwa von Mac Piarais (Pearse) und Ceannt, sehen. Zudem können wir meines Erachtens darin die Saat für die fatale Unterminierung des gesamten Unternehmens durch den Bürgerkrieg erkennen. An diesem Punkt bestellt Joyce wohl eine weitere Runde.
Nur sehr wenige Sprecher welcher Sprache auch immer, fahre ich fort, als der weiß beschürzte Kellner mit einem deutlichen »Bitteschön!« die Gläser auf der runden Marmorplatte abstellt, kommen mit der umfassenden Sammlung an Präsumptionen, Präjudizen, Präkonzepten zurecht (das Präfix ›prä‹ ist wichtig), welche die meisten Sprachen, nicht nur die imperialen europäischen Sprachen, mit sich bringen. Nicht nur Grammatik und Syntax sind für die meisten Sprecher ein hartnäckiges Problem, sondern auch die weit verbreiteten Klischees, abgedroschenen Phrasen, Juxtapositionen und Gegenbegriffe, die alle Teil der linguistischen Tradierung der Alltagssprache sind. Dass die IRB dachte, sie könnte einer englischen Weltsicht entkommen, während sie sich zugleich »ausschließlich des Englischen bediente«, ist nur ein weiterer Fehlschluß von 1916.
Wenn wir jedoch von der allgemeinen Sprache und Kultur (im anthropologischen Sinne) einmal absehen, können wir uns einer Reihe anderer, konkreterer und praktischerer Wege vorstellen, durch die das Irische dem Gang der Ereignisse vor und nach 1916 eine entscheidende Wende hätten geben können. Die anglophone Natur der Bewegung der IRB-Freiwilligen – die durch die Proklamation besiegelt und beglaubigt wurde – war ein Grund dafür, warum sie so offen war für die Übernahme durch John Redmond und die Irish Parliamentary Party. Die Entscheidung der IRB, Englisch zur Verkehrsprache zu machen, bedeutete, dass es keine Schranke gab, um eine Unterminierung durch irgendeine anglophone politische Partei von Bedeutung zu verhindern, die dazu den Willen und die Kraft hatte. Nicht nur das, sondern die bedingungslose Akzeptanz der Volunteers, dass die Sprache des englischen Parlaments die einzige Sprache sei, in der Entscheidungen getroffen werden könnten, machte Redmonds Woodenbridge-Rede12 nahezu unvermeidlich. Da seine Rede keinerlei sprachlichen Kontrolle unterlag, glaubte er »Irland in seiner Tasche zu haben«, wie James Stephens13 es in The Insurrection in Dublin (1916) formulierte, und feierte es dementsprechend.
An dieser Stelle meiner Erklärung erlaube ich mir, auf die Gabe der Prophezeiung zurückzugreifen. Der aus 1916 resultierende Unabhängigkeitskrieg, so sage ich zu einem in Gedanken versunkenen Joyce, wird nahezu vollständig auf Englisch geführt werden, und bei ihren Treffen, Verhandlungen und Kabinettsdiskussionen in englischer Sprache werden sich Sinn Féin und das Dáil (Parlament) rasch in einem Netz von Sprache verfangen, das nicht das ihre ist und aus dem sie sich nicht befreien können. »Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen«, wird Ludwig Wittgenstein später sagen – ein Konzept, das dem Schöpfer von Stephen Dedalus bestimmt nicht fremd ist.
Dass die irische Sprache semantische Schwierigkeiten überwinden konnte, hatte sich während des letzten Ardfheis (Jahresversammlung) einer unabhängigen Gaelic League im Jahre 1915 gezeigt. Das Wort ›saor‹ (frei) wurden von allen Fraktionen akzetiert und per Zusatzantrag zu einem Antrag der IRB in die Statuten der League aufgenommen. Churchills Anekdote über die Schwierigkeiten mit dem Wort ›Saorstát‹ (Freistaat) zu Beginn der anglo-irischen Vertragsverhandlungen, die Frank Pakenham beleuchtet14, spricht dennoch für sich. Wären die Diskussionen im irischen Kabinett in irischer Sprache geführt worden, hätte man sich auch der damals gebräuchlichen Begriffe ›poblacht‹ (Republik) oder ›saorstát‹ (Freistaat) bedienen können und wäre vielleicht zu einem deutlicheren Konsens darüber gelangt, was gewünscht wurde und was erreichbar war. Nicht wenige der irischen Verhandlungsführer konnten Irisch sprechen, warum taten sie es nicht, so wie Lloyd George und sein Sekretär Tom Jones Walisisch sprachen?
Zu guter Letzt behaupte ich, dass der IRB-Aufstand von 1916 im Gegensatz zu der auf die irische Sprache konzentrierten Erhebung von Mac Piarais (Pearse) und Ceannt oder dem sozialistischen Vorstoß von Connolly eine Abkehr von der allumfassenden erneuernden Sprachbewegung und der langsamen, aber tiefgreifenden Revolution bedeutete, die 1893 mit der Gründung der Gaelic League ihren Anfang genommen hatte. Viele der am Osteraufstand Beteiligten, auch Michael Collins15, bestätigten, dass dies in der Tat eine Revolution war.
Berücksichtigen wir Joyces Fenier-Hintergrund und die Notwendigkeit, sein eigenes Talent zu schützen sowie seine künstlerischen Ambitionen und das romantische – fast Wagnerianische – Ideal, das er vom Künstler als Individuum hegte, verstehen wir, warum er den Netzen des anglophonen Nationalismus entfliehen musste, ohne sie natürlich gänzlich hinter sich zu lassen. Die irische Sprache bot einen weiteren Fluchtweg. Sie führte Patrick Pearse (Pádraig Mac Piarais) als Pädagogen ins zweisprachige Belgien. Thomas MacDonagh gründete zuammen mit Joseph Plunkett und Edward Martyn das Irish Theatre, in dem internationale wie auch irische Theaterstücke zur Aufführung kamen. Das Theater stand damit im Gegensatz zur völkisch-irischen Ruralität des Abbey Theatre. Joyce hatte sich aus diesem Grund gegen dieses Theater von Yeats und Lady Gregory ausgesprochen. 1915 und in den Jahren danach wurden im Irish Theatre Stücke in irischer Sprache aufgeführt sowie Stücke von Tschechow, Strindberg und Henrik Ibsen, dem alten Helden von Joyce. Eine Dichotomie zwischen der irischen Sprache und der Kultur Kontinentaleuropas, der man nicht entkommen konnte, gab es nicht; der Fortschritt war ein Parallelprozess. Zu den größten Hindernissen, europäische Kultur nach Irland zu bringen, gehörten die Vorherrschaft des anglophonen römisch-katholischen Klerus und die monolinguale Kultur Englands. Irisch war das beste Mittel, diese beiden Hindernisse zu überwinden oder sie zuminest zu umgehen. Weil bei der Planung des Osteraufstandes dieser Fortschrittsmöglichkeit der Rücken gekehrt wurde – unter anderem kamen sich Aufstandsplanung und Management des Irish Theatre ins Gehege –, und weil vom Irischen, der Offenheit und Unabhängigkeit des gälischen Geistes Abstand genommen wurde, unterminierte der Aufstand von 1916 seine eigenen Bemühungen. Mehr noch, die Offenheit gegenüber Europa wurde ebenso eingestellt wie die gegenüber der irischen Bevölkerung insgesamt. Die Aktionen der IRB entfremdeten den unionistischen Bevölkerungsteil Irlands nach 1916 nahezu unwiderruflich. Der Gaelic League konnte man dergleichen nicht vorwerfen. Das Ergebnis war die politische Teilung Irlands durch eine imperiale Regierung.
Einer der wichtigsten Grundzüge von 1916 – und Joyce würde mir hier vermutlich zustimmen – bestand darin, dass der Osteraufstand ein heroischer und völlig altruistischer Schlag gegen eine korruptes, blutiges und undemokratisches Empire sowie gegen dessen inakzeptable Doktrin des Imperialismus, Rassismus und der Klassensuprematie war. Die Gaelic League hatte der irischen Bevölkerung das effektivste ihrer Mittel zurückgegeben, um diesen Imperialismus untergraben zu können – die irische Sprache. Diese irische Revolution wirkte, wie die Beteiligung so vieler Mitglieder der Gaelic League am Osteraufstand zeigt. Die Arbeit der Gaelic League war noch nicht getan, doch sie ging, wie Pádraig Mac Piarais (Patrick Pearse) sagte, mit mehr ungeduldiger Leidenschaft denn Vernunft ans Werk. Und die rückwärts gerichtete IRB, gefangen in der konservativen Tradition des anglophonen Republikanismus, begriff nicht, dass es wichtig gewesen wäre, die gälische Revolution fortzusetzen. Im Gegenteil, indem sie sich der Sprache des Imperialismus bediente, trieb sie die Revolution nicht voran und unterminierte das von ihr gebrachte Opfer, wie es treffend in Ihrer Frage hieß.
An diesem Punkt würde Joyce vermutlich lieber über Donizetti sprechen oder zu Nora und den Kindern zurückkehren. Ich wage also zum Schluß eine weitere kleine Prophezeiung. Es wird behauptet, durch den Osteraufstand sei Irland wiedererwacht. In einem gewissen populistischen Sinn ist dies wohl wahr – die Hinrichtungen und die folgenden englischen Bemühungen, die Wehrpflicht durchzusetzen, führten zu einer breiten öffentlichen Entrüstung und zu einer bis dahin nicht gekannten Nähe der römisch-katholischen Kirche zum Republikanismus. Doch das Irland, das schließlich aus diesen Prozessen hervorging, war nicht das kreative, künstlerische, sozialistische, inspirierende gälische Irland, für das einige der Aufständischen von 1916 ihr Leben opferten, sondern ein konservatives, anglophones Irland, dominiert von moralisch begründeten Einschränkungen und einer undurchsichtigen Machtstruktur eben jener römisch-katholischen Kirche, kontrolliert durch ein enggefasstes bürgerliches Ethos, das nicht nur dem Sozialismus, sondern allen kulturellen, sprachlichen oder wohlfahrtsstaatlichen Unternehmungen abhold war, für die Geld ausgegeben werden sollte. Die Ursache hierfür ist nicht der Bürgerkrieg, wie so viele uns glauben machen wollen, sondern die unmittelbare Folge der Anlehnung an die englische Kultur – und nicht zuletzt auch an die englischen Respektabilität – sowie der damit verbundenen imperialen Sprache durch die Revolutionäre der Irish Republican Brotherhood.
Ich spüre, dass Joyce ungeduldig wird. Er übergeht dies jedoch mit aller Höflichkeit. Ich danke ihm, dass er mir zugehört hat und überlasse das letzte Wort Dubhglas de hÍde (Douglas Hyde, bekannt als »An Chraoibhín Aoibhinn« [»The Pleasant Little Branch«]16), den Joyce vermutlich mehr als jeden anderen mit der irischen Sprachbewegung assozieren würde. Dubhglas de hÍde sprach über die IRB und den Osteraufstand mit einem gewissen egoistischen Unterton, den Joyce sicher geschätzt hätte: »Zweiundzwanzig Jahre lang bestand meine Arbeit darin, Irland wieder zu intellektueller Unabhängigkeit zu verhelfen. Es wäre mir gelungen, wenn man mich nur gelassen hätte. Diese Leute haben mir früh ›einen Strich durch die Rechnung gemacht‹, das Handgreifliche und das Intellektuelle vermengt, meine Lehre in Kugeln und Schwerter übersetzt und mich zur Machtlosigkeit verdammt.«
Es ist durchaus möglich, dass Joyce uns mit der Bürger-Episode des Ulysses eine Analyse der Ereignisse17 geliefert hat, und es wäre interessant, dies eingehender zu diskutieren, nicht zuletzt, wie wenig seine Darstellung dem Charakter und der Persönlichkeit des Mannes entspricht, der als sein Modell gilt – Micheál Ó Ciosóig (Michael Cusack). Auch in Finnegans Wake nimmt Joyce, wie Sie ausgeführt haben, Bezug auf 1916, und es wäre faszinierend zu sehen, was wir beispielsweise aus Teil IV jenseits von Persse O’Reilly herauskitzeln könnten, in dessen Namen Tindall18 sowohl Patrick Pearse als auch The O’Rahilly19 erkennen will. Doch die obige Antwort muss für den Augenblick genügen.
Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Schneider. Das Interview erscheint parallel in irischer Sprache in der Zeitschrift Feasta.
- James Joyce, Der Tag des Pöbels. übersetzt von Hiltrud Marschall, in: ders., Kleine Schriften. – Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 137-141 (= James Joyce, Frankfurter Ausgabe, Bd. 4.1) 2) James Joyce, Irland auf der Anklagebank. Reportagen aus der irischen Wirklichkeit, hg. und übers. v. Friedhelm Rathjen. – Südwesthörn: Edition ReJoyce 2013, darin S. 97-108: Il Fenianismo. L’ultimo Feniano / Das Feniertum. Der letzte Fenier. 3) Chú Chulainn ist ein Held der irischen Mythologie, der in den Erzählungen des Ulster-Zyklus, einer Gruppe alt- und mittelirischer Sagen, gewürdigt wird. Aufgezeichnet wurden die Erzählungen im 12. bis 15. Jahrhundert in Prosa, doch deuten einige Verspartien auf eine sprachliche Fixierung im 8. oder sogar 7. Jahrhundert. 4) Michael Cusack (1847-1906), Gründer der Gaelic Athletic Association mit der Ziel der Wiederbelebung der gälischen Sportarten Hurling und Gaelic Football. 5) David Patrick Moran (irisch: Dáithí Pádraig Ó Móráin; 1869 –1936) war ein irischer Journalist, Aktivist und kulturpolitischer Theoretiker und Befürworter eines spezifisch gälisch-katholischen irischen Nationalismus. Seine Ideen verbreitete er in der Zeitschrift The Leader und in der Textsammlung The Philosophy of Irish Ireland (1905). 6) Arthur Griffith (irisch: Art Ó Gríofa; 1872-1922) war ein irischer Politiker. Von Januar 1922 bis zu seinem Tod war er Präsident des Freistaates Irland. Griffith gründete 1905 durch den Zusammenschluss verschiedener irisch-patriotischer Vereinigungen die Partei Sinn Féin. Seine Idee war es, aus dem Königreich Großbritannien nach dem Vorbild Österreich-Ungarn ein anglo-irisches Königreich mit einem gemeinsamen Monarchen, aber getrennten Regierungen zu bilden. Inwieweit Griffith Antisemit war, ist Gegenstand anhaltender Debatten. 7) Standish James O’Grady (1846-1928), Autor und Literaturhistoriker, dessen populäre englische Versionen irischer Heldensagen ihm die Bezeichnung »Vater des irischen literarischen Revivals« einbrachte. 8) Andrew Gibson, James Joyce: A Critical Life (University of Chicago Press/Reaktion Books, 2006). 9) Richard Ellmann (1918-1987), US-amerikanischer Literaturhistoriker, dessen 1959 erschienene und 1982 überarbeitete Joyce-Biografie (in deutscher Sprache erschienen im Suhrkamp Verlag) bis heute als das Standardwerk über das Leben des irischen Schriftstellers gilt. Zur Kritik an Ellmann s. etwa Bernard McGinley, Joyce’s Lives. Uses and Abuses of the Biografiend (University of North London Press, 1996). 10) William Rooney (1873–1901) war ein irischer Nationalist, Journalist, Dichter und Verfechter des gälischen Revivals sowie Mitbegründer der Celtic Literary Society und der Zeitung United Irishman. Seine Gedichte erschienen posthum im Jahre 1902: Poems and Ballads of William Rooney. James Joyce kritisierte Rooneys Gedichte im Daily Express (11. Dezember 1902). Rooney, so Joyce, gelänge es nicht, etwas zu kreieren, das sich der Kunst der Literatur zurechnen ließe, da der Patriotismus vom Dichter Besitz ergriffen habe. 11) Seán Mac Diarmada (1883-1916) war einer der Organisatoren und Anführer des Osteraufstandes und Unterzeichner der Oster-Proklamation. Er wurde nach der Niederschlagung des Aufstandes im Kilmainham Gaol, Dublin, hingerichtet. 12) Am 20. September 1914 forderte John Redmond, der Parteivorsitzende der Irish Parliamentary Party, während einer Rede in Woodenbridge, Grafschaft Wicklow, Mitglieder der Irish Volunteers auf, in die britische Armee einzutreten. Nach der Verabschiedung des Home-Rule-Gesetzes im britischen Parlament zwei Tage zuvor schwor er der alliierten Sache seine Unterstützung. Die Umsetzung des Home-Rule-Gesetzes wurde auf die Nachkriegszeit verschoben. 13) James Stephens (1880?-1950), irischer Dichter und Schriftsteller. Stephens war eng mit Thomas McDonagh, einem der Anführer des Osteraufstandes, befreundet. Als James Joyce in den 1930er Jahren glaubte, Work in Progress (später veröffentlicht unter dem Titel Finnegans Wake) nicht beenden zu können, trug er sich mit dem Gedanken, Stephens mit der Aufgabe zu betrauen. 14) Vgl. Frank Pakenham, Peace By Ordeal: An Account from First-Hand Sources of the Negotiation and Signature of the Anglo-Irish Treaty of 1921 (London: Jonathan Cape, 1935), S. 82 f. 15) Michael Collins (irisch: Micheál Ó Coileáin; 1890-1922) war als Organisator und Stratege im Untergrund maßgeblich am Aufbau der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und deren Geheimdienst beteiligt und einer der führenden Protagonisten des irischen Unabhängigkeitskampfes von 1919 bis 1921. Er gehörte zur irischen Delegation, die den Anglo-Irischen Vertrag aushandelte, den Collins schließlich im Dezember 1921 unterzeichnete, wissend, dass er damit wohl sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte. Ende August 1922 begab sich Collins auf eine Inspektionsreise in die Grafschaft Cork, eine Hochburg der Vertragsgegner. Am 22. August 1922 geriet er in dem Dorf Béal na mBláth mit seiner Wagenkolonne in einen Hinterhalt von Vertragsgegnern aus der IRA. Bei einem rund halbstündigen Schusswechsel wurde Collins tödlich am Kopf getroffen. 16) Douglas Hyde (1860-1949) gründete 1893 die Gaelic League zur Wiederbelebung und Pflege der irischen Sprache, der er bis 1915 als Präsident vorstand. Von 1909 bis 1932 dozierte er als Professor für Modernes Irisch am University College Dublin. Von 1938 bis 1945 war er erster Präsident von Irland. 17) Der Kommunist und einstige Lenin-Vertraute Karl Radek (1885-1939?) behauptete in seiner Rede während des I. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller im Jahre 1934, der »Dunghaufen« Ulysses präsentiere sich ohne Punkte und Komma. Radek siedelt die Handlung des Joyce’schen Romans statt im Jahre 1904 im Jahre 1916 an. Die Blooms und Daedaluse, so Radek weiter, denen der Autor gnadenlos aufs Klo, ins Bordell und in die Kneipe folge, hätten auch nicht aufgehört Kleinbürger zu sein, als sie am Osteraufstand von 1916 teilgenommen hätten. 18) William York Tindall (1903–1981), Joyce-Aficionado aus den USA, der an der Columbia University lehrte. Mac Cóil bezieht sich auf dessen Werk A Reader’s Guide to Finnegans Wake (Syracuse University Press, 1969). 19) Michael Joseph O’Rahilly (irisch: Mícheál Seosamh Ó Rathaille oder Ua Rathghaille; 1875 –1916), bekannt als »The O’Rahilly«, war ein irischer Republikaner und Gründungsmitglied der Irish Volunteers im Jahre 1913, als deren »Director of Arms« er diente. Er nahm gegen seine Überzeugung am Osteraufstand teil und starb im Maschinengewehrfeuer der britischen Armee.