Mit James Joyce auf einer Stadtrundfahrt durch Frankfurt am Main?

Schon auf dem Cover des Buches Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe lesen wir: »Er schlenderte mit James Joyce durch Goethes Geburtshaus.« Ein Rezensierschmock weiß denn auch: »Wolfe besucht das Goethe-Haus in Frankfurt. Und ausgerechnet dort stolpert ihm der damals schon berühmte James Joyce über den Weg.«

Der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe (1900-1938) bereiste Deutschland zwischen 1926 und 1936 sechsmal. In Eine Deutschlandreise sind seine Beobachtungen zusammengetragen, bei denen die Beschreibungen der Physiognomie der Deutschen auffällt, von »Dreifachnacken«, »Hunnenschädel« bis »fette, gewissenlose Gesichter«. Im September 1928 besuchte er nach Köln, Bonn, Mainz und Wiesbaden auch Frankfurt  am Main. Er schreibt, nachdem ihm zuvor der Rheinwein gemundet hatte: »Das ist eine Großstadt von einer halben Million Einwohner – und das einzige Vergnügen, das sie sich ausgedacht haben, ist – Bier. Ich gebe ja zu, dass dies ein herrliches Vergnügen ist – aber warum ist man nach drei- oder viertausend Jahren Übung auf nichts anderes gestoßen?« 

Drei Tage später vertraut er seinem Notizbuch an: »(Frankfurt) Diens., 4. Sept. (1928) Heute auf einer Stadt-Rundfahrt – Saß wieder neben Mr. James Joyce…« An seine Muse Aline Bernstein schreibt er dazu am gleichen Tag in einem Brief, bei der Stadtrundfahrt in einem großen Bus habe ihn James Joyce gebeten, er möge sich neben ihn setzen: »Ich glaube, er kannte mich noch von damals, als wir im September vor genau zwei Jahren zusammen von Brüssel nach Waterloo gefahren waren. Er sah inzwischen deutlich älter aus, hielt sich ziemlich gebückt, war aber sehr elegant gekleidet – jedenfalls besser als das letzte Mal, und statt eines Augenschirms trug er eine dunkle Sonnenbrille (…) Beim Goethehaus stiegen wir aus, und als wir auf die Straße hinaustraten, sagte er zu mir, es sei ›ein schönes altes Haus‹…«

Sicher ist dank der Recherchen des Wiener Literaturdetektivs Andreas Weigel: 1928 verbrachte Joyce mit seiner Lebensgefährtin Nora Barnacle die gesamte Festspielzeit in Salzburg, sie trafen am 23. Juli 1928 dort ein, blieben bis einschließlich 28. August 1928 und wohnten im Hotel Mirabell. Während des Salzburg-Aufenthaltes traf Joyce u. a. seinen Bruder Stanislaus, den britischen Schriftsteller, Dramatiker und Poeten John Drinkwater, den Salzburger Künstler Adolph Johannes Fischer, den Ulysses-Kommentator Stuart Gilbert, den amerikanischen Financier und Mäzen Otto Hermann Kahn sowie den Schriftsteller Stefan Zweig. 

Doch wohin es James und Nora nach Salzburg verschlug, wird von Joyce-Forschern unterschiedlich dargestellt. Die Darstellungen sind mangels Quellenangaben zudem nicht verifizierbar. Bei Daniel von Recklinghausen (James Joyce – Chronik von Leben und Werk, 1968) heißt es: »20. August – Ende Agust Aufenthalt in Frankfurt am Main … 3. September Auf der Weiterreise nach Le Havre macht Joyce in Straßburg, Hotel Maison Rouge, Station.« Laut der Darstellung des Joyce-Biografen Richard Ellmann (James Joyce, 1982) ist Joyce von Salzburg nach Frankfurt, von dort nach München und von dort wiederum nach Le Havre gereist. Laut Jörg Rademacher (James Joyce, 2004) reiste Joyce von München nach Stuttgart. Folgt man Roger Norburn (A James Joyce Chronology, 2004), logierte Joyce vom 29. August bis zum 3. September im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten, vom 3. bis ca. 5. September im Hôtel Maison Rouge, Straßburg, und vom (nicht gesicherten) 5. bis zum 14. September im Hôtel Continental, Le Havre. Am 3. September, so Norburn, habe Joyce Stuart Gilbert einen Brief an die Ulysses-Verlegerin und Buchhändlerin Sylvia Beach diktiert und seine Augenprobleme geschildert – er werde mehrere Wochen nicht lesen oder schreiben können. Den München-Aufenthalt bestätigt Joyce in einem diktierten Brief vom 20. September 1928 an seine Mäzenin Harriet Weaver Shaw, nachdem er laut Ellmann in Paris wegen einer Augenkomplikation zusammengebrochen war und Gedrucktes nicht mehr sehen konnte: »Ich ließ mir in München (…) eine Jacke aus grünem Stoff machen, den ich in Salzburg gekauft hatte…« 

Hat Wolfe in Frankfurt/M. tatsächlich James Joyce getroffen, wie er unmittelbar und nicht etwa Jahre später in seinem Notizbuch und in dem Brief an Aline Bernstein schreibt? Oder war es doch eher bloß der Wunsch, den von ihm verehrten Iren erneut zu treffen, denn in dem Brief an Aline Bersntein räumt Wolfe ein: »Ich bin nicht ganz so sicher, dass er es war.« 

War es Joyce, so wäre zu erkunden, wann und wie er nach Frankfurt am Main gelangte, wo er logierte und warum er trotz seiner Augenprobleme dort eine touristische Besichtigungstour unternahm, warum er – wie Wolfe berichtet – einen Arm in einer Schlinge und auf dem Kopf eine alte Baskenmütze trug, obwohl ein bekanntes Foto von Berenice Abbott aus dem Jahre 1928 Joyce mit einem Hut zeigt. 

Thomas Wolfe, Eine Deutschlandreise in sechs Etappen. Literarische Zeitbilder 1926-1936 herausgegeben von Oliver Lubrich. Manesse, 2020.