Irisch-deutsche Unbehaustheit – Über Hugo Hamiltons Roman »Palmen in Dublin«

Die Geschichte des in Dublin aufgewachsenen Schriftstellers Hugo Hamilton ist seit der Veröffentlichung seines Buches »Gescheckte Menschen« (2004) bekannt. Seine Mutter Irmgard Kaiser kam aus dem niederrheinischen Kempen. Auf einer Pilgerreise lernte sie in Dublin Jack Hamilton kennen, einen radikal national gesinnten Iren aus Cork, der seinen irischen Namen angenommen hatte – Sean Ó hUrmoltaigh.

Die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder durften nur Gälisch oder Deutsch reden, trugen irische Aran-Pullover und deutsche Lederhosen –  waren »oben irisch und unten deutsch«. Englisch zu sprechen war strikt verboten, es war untersagt, keine schlimmen Wörter wie »fruit gums« mit ins Haus zu bringen, ja selbst der Umgang mit Gleichaltrigen, die kein Irisch sprachen, war nicht erlaubt. Wurde das Verbot nicht eingehalten, befragte der strenge Vater den Allmächtigen auf den Knien, wieviel Schläge die angemessene Strafe wären. Der Vater hörte aus übergroßen Lautsprecherboxen Bach und Beethoven und versuchte vergeblich sein Glück mit dem Verkauf von Kruzifixen aus Oberammergau. Vater Ó hUrmoltaigh träumte von einem modernen Irland, in dem alle Irisch reden würden. 

Bemühte sich Hamilton in »Gescheckte Menschen«, seinen die irische Sprache verfechtenden Vater zu verstehen, so versucht der Ich-Erzähler in Hamiltons neuem Roman »Palmen in Dublin«, dessen Geschichte der seines Erfinders ähnelt, sich von seinem Vater und dessen irischer Sprache zu distanzieren. Diese Sprache wird zu einer »Geistersprache« erklärt, während Englisch zur »Sprache der Freiheit und des Auf-und-davon ohne einen Blick zurück« stilisiert wird. Wer von einer Geistersprache spricht, schreibt ihr zu, sie sei tot. Bereits 1776 hatte Charlotte Brooke in ihrem Werk »Irish Reliques« konstatiert, die irische Sprache liege in den letzten Zügen. Die Debatte darüber, wie es um das Irische steht, hat seitdem nicht aufgehört. Es droht Gefahr, wenn irische Behörden heute Texte per Google ins Irische übersetzen lassen. Das zu den keltischen Sprachen gehörende Irisch wurde nach der Eroberung Irlands unterdrückt und mehr und mehr durch das angelsächsisch-normannische Idiom der englischen Eindringlinge ersetzt, deren Repräsentanten sehr richtig feststellten, dass der Prozess der Kolonisierung unvollständig bliebe, würde er nicht von einem linguistischen – der Anglisierung – begleitet. 

Samuel Beckett hatte einst auf die Frage »Vous êtes Anglais, Monsieur Beckett?« pikiert erwidert »Au contraire« und damit unterstrichen, dass Iren und Engländer sich nicht nur unterscheiden, sondern auch über andere Wahrnehmungsmuster und Realitätsvorstellungen verfügen. 

Hamiltons Ich-Erzähler ist das, was der irische Dichter Máirtín Ó Direáin (1910-1988), den es einst von den im Atlantik gelegenen irischsprachigen Aran-Inseln in die Kapitale Dublin verschlug, als »stoite« bezeichnete – entwurzelt. Heidegger, der Sprache als Haus des Seins verstand, würde ihm »Unbehaustheit« oder »Unheimischsein« bescheinigt haben. Das »Sprachenkonsortium« aus Irisch, Deutsch und Englisch, mit dem der Ich-Erzähler groß wurde, ist ihm keine Inspiration, sondern ein »Glücksspiel, bei dem sich das korrekte Wort unter einem von drei Bechern verbirgt«. Es lässt ihn verstummen, krank werden und anders als die Palmen Dublins nirgendwo einen richtigen Platz finden. Die Palmen-Metapher hat es Hamilton angetan. Seine Kurzgeschichtensammlung von 1996 trug den Titel »Dublin Where the Palm Trees Grow«. 

In »Palmen in Dublin« gibt der Ich-Erzähler seine Arbeit »im Keller der toten Sprache«, bei einem Vertrieb für irische Musik auf, um sich dem Schreiben in der »Sprache der Straße«, dem Englischen, widmen zu können. Der namenlose Protagonist ist nach einem Berlin-Aufenthalt nach Dublin zurückgekehrt und versucht sich zusammen mit seiner Partnerin Helen eine Existenz aufzubauen. Dies mag nicht recht gelingen, und viele Seiten des Buches sind den Schilderungen der leidvollen Erfahrungen mit hartnäckigen Gläubigern gewidmet. Werden Frau, Kinder, Haus, Umgebung, die erweiterte Familie und Besucher detailreich beschrieben, wobei häufig das Adjektiv blau Verwendung findet, bleiben Personen der Zeitgeschichte namenlos, wie etwa Joseph Beuys und Heinrich Böll, und die politischen Ereignisse, die eine zeitliche Einordnung des Plots ermöglichen sollen, wie etwa der verheerende IRA-Bombenanschlag in Birmingham vom Oktober 1974 oder der Hungerstreik irisch-republikanischer Gefangener des Jahres 1981 im Lager Long Kesh werden nur schemenhaft oder – wie der Fall der Berliner Mauer – arg überschwänglich skizziert. 

Der Ich-Erzähler versucht, sich über seine Schreibweise Klarheit zu verschaffen. Mal äußert er, Baumaterialien seien ihm lieber als Wörter, dann möchte er gern so furios schreiben wie sein nach Australien emigrierter Freund ihm im Pub eine Story erzählte. Und schließlich hat er die plötzliche Eingebung, dass es nicht nur eine einzige Geschichte, sondern lediglich Bruchstücke in Bewegung gibt, und fährt fort: »Meine Haut im Inneren ist schwarz und weiß, zerzaust und zusammenhanglos wie die Palmen. In dieser Nicht-Ordnung werde ich alles entdecken.« Am Ende dieses in traditioneller Ordnung verfassten Romans ernährt sich der Protagonist von Porridge und gibt uns die Erkenntnis mit auf den Weg: »Wir können uns neue Erzählformen ausdenken, um zu beschreiben, wer wir sind und woher wir kommen.« Ob dieses neue Erzählen wohl auch in der »Geistersprache« erfolgen darf? 

Hugo Hamilton, »Palmen in Dublin«. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. – München: Luchterhand, 2020, 286 S., 22 Euro