Der Fun der Ichlinge in Ischgl

Das Bergdorf Ischgl ist ein 1.500-Seelen-Ort im österreichischen Paznauntal. Erst Anfang der 1960-er Jahre – als Retrogarde der meisten ihrer Tiroler und Vorarlberger Nachbarn – beschlossen die Ischgler Bergbauern, sich nach lukrativen Einnahmequellen umzusehen. Sie legten 1963 ihre dürftigen Ersparnisse und viel geliehenes Geld zusammen und bauten die ersten Lifte auf der Livretta, nicht ahnend, dass damit eine spektakuläre Erfolgsgeschichte beginnen und ihre Kuhblöke ein paar Jahrzehnte später zu den wichtigsten Wintersportorten Österreichs mit elftausend Gästebetten und mehr als einer Million Übernachtungen im Jahr zählen würde.

»In Ischgl« – so der Fotograf Lois Hechenblaikner – »gibt es die meisten Après-Ski-Lokale, und die meisten Wirte haben einen bäuerlichen Hintergrund. Das heißt, sie haben einen Instinkt fürs Tier. Und der Instinkt des Viehhändlers ist das Rezept für Après-Ski.« In Etablissements wie ›Trofana Alm‹, ›Kuhstall‹, ›Nikis Stadl‹, ›Champagnerhütte‹, ›Freeride‹, ›Kitzloch‹ oder ›Schatzi Bar‹ haut der lederbehoste Synthetik-Tiroler dem Gast auf die Schulter und sagt: »Kimm eina, trink ma oan!« Zuweilen tanzen die Puppen auf dem Tresen, und Speed- und Kampftrinken gehören zu den Pflichtübungen der überwiegend männlichen Gäste. 

»Die Lokale an der Pardatschgratbahn wie die ›Schatzi Bar‹ oder das ›Freeride‹«, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung, »haben sich einer besonderen Form der Skigymnastik verschrieben und schicken Lohntänzerinnen im Doppelschichtbetrieb ins Rennen. Diese Amüsiermädchen stecken in Dirndln, die man auf die Minimalgröße brasilianischer Strandtextilien zusammengeschnitten hat (…) DJs dröhnen die entfesselte Menge mit ballermannesker Schlagermusik von Interpreten zu, die sprechende Namen wie Nick Nackig, Tim Toupet oder Peter Wackel tragen und im Wesentlichen über den Beischlaf in stark alkoholisiertem Zustand singen.« Grölt die Menge im Kuhstall »Mädchen aus Schwaben, die muss man nur fragen«, brüllt der DJ immer wieder wie von Sinnen »zicke zacke, zicke zacke, hoi, hoi, hoi!« In Ischgl geben sich Menschenexemplare der aus der ganzen Welt angereisten Mittel- und immer reicheren Oberschicht dem Alkoholexzess hin. Die gut gepolsterten Brettlrutscher werden von einem örtlichen Hotelier und Bar-Betreiber aufgefordert, »mit dem Penis zu denken.«

Lois Hechenblaikner, der das Treiben in Ischgl mit dem Terminus »Delirium Alpinum« belegte, führt dazu aus: »Der ganze Ort funktioniert wie ein Hirnnebel. Es geht nur darum, den Menschen außer sich zu bringen, das steckt schon im Slogan ›Relax if you can‹. Und an dem Punkt, an dem die Enthemmtheit kippt, und wo man eigentlich sagen müsste, nein, es reicht jetzt, da kommen in Ischgl ganz gezielt Brandbeschleuniger dazu. So kommt es zu dieser Verwilderung, diesem Vulgarismus, dieser Nivellierung nach unten.« 

Anfang März 2020 erklärte die Regierung Islands Ischgl zum Corona-Risiko-Gebiet. Doch erst acht Tage später wurde der Tiroler Skiort unter Quarantäne gestellt, Hunderte Urlauber reisten unkontrolliert aus der Virenschleuder nach ganz Europa aus (s. Gabriel Felbermayr, Julian Hinz, Sonali Chowdhry, Après-ski: The Spread of Coronavirus from Ischgl through Germany [https://www.ifw-kiel.de]). Im Sars-CoV-2-Hotspot galt zunächst »laschet uns die Gaudi fortsetzen«, selbst als es reichlich Verdachtsfälle gab, wurden die Bars und Bergbahnen nicht geschlossen. Welcher Après-Ski-Hütten-Betreiber wollte schon gerne auf bis zu 120.000 Euro Umsatz pro Tag verzichten? Die Wiener Tageszeitung Der Standard kommentierte: »Die Gier hat die Verantwortung für die Gesundheit der Bürger und der Gäste besiegt. Man wollte diese letzte ›starke Touristenwoche‹ noch ›mitnehmen‹, auf dass die Kassen der Liftbetreiber und Hoteliers klingeln.«

Lois Hechenblaikner hat den profit- und eventgesteuerten Unterhaltungsfuror in Ischgl, diese permanente Feier- und Exhibitions-Laune samt ihrer ökologischen Kollateralschäden in Zeiten vor Covid-19 visuell begleitet. Für sein Fotobuch ISCHGL konnte er auf die Arbeit von 26 Jahren und auf 9.000 Bilder zurückgreifen. Diese zeigen eine zur bloßen Kulisse degradierte Natur ebenso wie dem Hochleistungssuff verschriebene Heiterkeitsidioten, Saufsäcke mit Ich-bin-gern-ein-Arschloch-Aura, egoprall gefüllte Menschenerbärmlichkeiten und sexistische Hohlbratzen, auf der Eigenarschgeige fiedelnde Pimmelprotzer, delirierende Kotzbrocken, hackedudeldichte Feierbiester. Diese pooren Existenzen aus dem Spaßspießertum und der Prostmoderne überziehen die Skipisten mit ihren leeren Bierkästen, Schampusflaschen und anderem Wohlstandsabfall, tragen Indianerkopfschmuck oder T-Shirts mit dem granatendämlichen Aufdruck »Brustvergrößerung durch Handauflegen«, lassen sich Prickelbrause in die Arschritze gießen oder penetrieren im Schnee ihre als lebensecht erachteten aufblasbaren Sexpuppen. 

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vermochte in Ischgl »keinerlei Anzeichen von Verwahrlosung oder Verfall« erkennen, ließ sich vom Folklore-Chic der Pastiche-Almhütten blenden und hüllte den Vulgarismus des Ischgl-Funs in eine Affirmationsblase. Für diesen Fun der Ichlinge steht Ischgl als Chiffre, er ist auch am Ballermann, in der Düsseldorfer Altstadt oder an den Stränden von Florida und anderswo verbreitet. 

»Fun ist ein Stahlbad (…) Gelacht wird darüber, dass es nichts zu lachen gibt«, heißt es bei Horkheimer und Adorno in Dialektik der Aufklärung. Dieses Lachen läuft daher über zu jenen Instanzen, die es fürchten sollte, zu Denkweisen nämlich, die keineswegs die von Menschen erfahrenen elenden Lebensumstände anprangern, sondern sich einverstanden erklären mit den Verhältnissen und sich bis ins alkoholbedingte Koma grölend auf deren Seite stellen. In dem grandiosen Fotoband von Hechenblaikner wird uns dies eindringlich vor Augen geführt.

Lois Hechenblaikner: ISCHGL. Mit einem Text von Stefan Gmünder. – 

Göttingen: Steidl, 2020, 240 Seiten, € 34 (D) / € 35 (A)