Immer dieselben alten Turnschuhe

Einfach nur Entertainment, gelegentliche Langweile inbegriffen: Sally Rooneys Roman »Normale Menschen« gibt sich progressiver als er ist

Walter Benjamin sah einst die Anzeichen einer grundlegenden Erneuerung der erzählerischen Formen darin, »die alte Genauigkeit in Schilderung, Zeitablauf, Innenleben zu demolieren«. Diese nun schon nahezu hundert Jahre alte Erkenntnis wird im Schreib- und Besprechungsgewerbe weitgehend ignoriert, die bürgerliche Ausdruckskonserve Roman, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erfuhr, dort weiterhin gehegt und gepflegt, als sei sie nicht »eine längst abgetakelte Fregatte« (Jürgen Ploog). Der alte Kahn wird immer wieder fit gemacht, so auch von der irischen Schriftstellerin Sally Rooney, deren zweiter Roman »Normale Menschen« qua Serienverfilmung durch BBC Three über den Feuilletonhype hinaus große Aufmerksamkeit erfuhr.

Dem Hype begegnete die junge Autorin gegenüber einer Interviewerin mit dem Hinweis: »Glauben Sie mir, viele Kritiker haben bemerkt, dass meine Bücher im Grunde genommen 19.-Jahrhundert-Romane sind, die sich zeitgenössisch gekleidet geben.« Die sich selbst als Marxistin bezeichnende Rooney weiß denn auch, dass ein Buch eine Ware ist, die allzuoft nur dazu dient, der Besitzerin oder dem Besitzer einen Distinktionsgewinn zu verschaffen, und dass – wie es in »Normale Menschen« heißt – »Literatur ein Fetisch ist dank ihrer Fähigkeit, gebildete Leute auf falsche Gefühlsreisen zu schicken«. Und Rooney sagt: »Ein Teil von mir wird nie glücklich darüber sein, dass ich einfach nur Entertainment schreibe, in Zeiten einer historischen Krise dekorative ästhetische Objekte hervorbringe.« Gefragt nach ihren Einflüssen und Inspirationsquellen nennt sie nicht etwa Marx und Engels oder die Marx Brothers, sondern die 1996 auf den Markt gekommene LP »If You’re Feeling Sinister« der schottischen Indie-Pop-Gruppe Belle & Sebastian. Als die Platte erschien, war Rooney fünf Jahre alt.

»Normale Menschen« handelt von der On-Off-Beziehung zwischen Marianne und Connell im Zeitraum zwischen Januar 2011 und Februar 2015, von der gemeinsamen Schulzeit in der fiktiven Kleinstadt Carricklea in der Grafschaft Sligo bis zum Studium am Trinity College in der irischen Kapitale Dublin. Sie ist die Tochter einer verwitweten und begüterten Anwältin, er der Sohn der ledigen Reinemachefrau Lorraine, die für die Anwältin »in der weißen Villa mit der Auffahrt« putzt. Mutter Lorraine und Sohn Connell haben ein inniges Verhältnis. Mariannes Mutter findet wenig Erwähnung, aus dem Wenigen wird allerdings deutlich, dass sie höchst unsympathisch ist. Ähnliches lässt sich von Mariannes Bruder Alan sagen, der sich gegenüber Connell als elitärer Kotzbrocken gebärdet.

Nun könnte die Beziehung zwischen einem Jungen aus den Unterklassen und der Tochter aus gutem Hause zu weiterführenden und erhellenden Ausführungen über Habitus, soziale Distinktion und kulturelles Kapital führen, im Kern der recht enervierenden Schilderung geht es jedoch um die Beziehung, wobei trotz ausgiebiger Dialoge meist recht unklar bleibt, warum die beiden mal zusammen oder eben nicht zusammen sind. Die Handlung nimmt mit banalen Beschreibungen und Details, mit Parataxen, die Alltägliches zeigen sollen, ihren Fortgang. »Sie zündet sich ein Streichholz an, und das aufflammende Licht erhellt ihr Gesicht.« Oder: »Er ging ins Bad, einem kleinen Raum mit pinkfarbenen Fliesen, einer Topfpflanze und Cremedöschen und Parfümfläschchen überall …« In solchen Sätzen will ein Kritiker »die Poetisierung des Alltags« erkennen, freilich nicht ohne die Nachbemerkung, »dass sich gelegentlich Langeweile einstellen kann«.

In der Schule sondert sich Marianne ab und trägt offene Verachtung für die anderen zur Schau, Connell hingegen hat ein prima Verhältnis zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Die beiden nehmen fälschlicherweise an, ihre Beziehung sei ein Geheimnis. Ein Geheimnis der Autorin ist es, warum Connell seiner Freundin unvermittelt rät, sie möge das »Kommunistische Manifest« lesen.

An der Universität wendet sich das Blatt. Connell, der nur dank eines Stipendiums studieren kann, während Marianne Stipendien eher als persönliche Empfindung denn als ökonomischen Faktor ansieht, fühlt sich im Gegensatz zu ihr nicht sonderlich wohl unter den Töchtern und Söhnen wohlhabender Eltern, die ihn als »Landei« bezeichnen und ihn abfällig beäugen, weil er stets dieselben alten Turnschuhe trägt. Der Marxistin Rooney ist offenbar verborgen geblieben, dass die etablierten Kleidercodes im 21. Jahrhundert nicht mehr so eindeutig und weniger klar »klassiert« sind als noch Mitte des 20. Jahrhunderts.

Connell lernt jedoch: »Reiche Leute kümmern sich umeinander, und weil er Mariannes bester Freund und mutmaßlicher Sexualpartner ist, hat Connell den Status von Reich-Zugehörig erlangt: jemand, für den Überraschungspartys geschmissen und kuschelige Jobs aus dem Nichts beschafft werden.« Und es wird in Studentenkreisen – so viel Realität breitet Rooney aus – über die Finanzkrise in Griechenland und über die Situation im Nahen Osten gesprochen und auch schon mal gegen den Krieg in Gaza protestiert. Doch ist eine solche Erwähnung weit entfernt von einer Negation aller gängigen Formalitäten der Gattung Roman. Darüber kann auch die Thematisierung der sadomasochistischen Neigungen von Marianne nicht hinwegtäuschen.

Dass es mit dem Status von Reich-Zugehörig nicht weit her ist und ein Klassenunterschied zwischen Marianne und Connell durchaus existiert, wird klar, als Ferien sind und Connell zurück nach Carricklea muss, weil er den Sommer über die Miete nicht zahlen kann. Er traut sich nicht, Marianne zu fragen, ob er nicht bei ihr unterkommen kann. Die Beziehung wird vorübergehend eingefroren.

Wie vieles in diesem Roman, bleibt auch dessen Ende offen. Wird Connell, den Depressionen plagen, in die USA gehen, um dort sein Masterstudium zu beenden, und wie so viele Iren vor ihm der Grünen Insel für immer den Rücken kehren? Marianne rät ihm, zu gehen, und verspricht: »Ich werde immer hier sein.«