Immer dieselben alten Turnschuhe

Einfach nur Entertainment, gelegentliche Langweile inbegriffen: Sally Rooneys Roman »Normale Menschen« gibt sich progressiver als er ist

Walter Benjamin sah einst die Anzeichen einer grundlegenden Erneuerung der erzählerischen Formen darin, »die alte Genauigkeit in Schilderung, Zeitablauf, Innenleben zu demolieren«. Diese nun schon nahezu hundert Jahre alte Erkenntnis wird im Schreib- und Besprechungsgewerbe weitgehend ignoriert, die bürgerliche Ausdruckskonserve Roman, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erfuhr, dort weiterhin gehegt und gepflegt, als sei sie nicht »eine längst abgetakelte Fregatte« (Jürgen Ploog). Der alte Kahn wird immer wieder fit gemacht, so auch von der irischen Schriftstellerin Sally Rooney, deren zweiter Roman »Normale Menschen« qua Serienverfilmung durch BBC Three über den Feuilletonhype hinaus große Aufmerksamkeit erfuhr. „Immer dieselben alten Turnschuhe“ weiterlesen

»Der einfache Ausdruck komplexen Denkens« – Donald Judd im texanischen Marfa

Die Ausstellung Judd im New Yorker Museum of Modern Art (1. März bis 11. Juli 2020) ist die erste größere Retrospektive der Werke von Donald Judd (1928–1994) in den USA seit über dreißig Jahren. Judd wird immer wieder als Minimalist bezeichnet, eine Kategorisierung, die er für sich ablehnte. Für ihn war sein Werk der »einfache Ausdruck komplexen Denkens« und wegen der mannigfaltigen Beziehungen zwischen Material, Farbe und Raum alles andere als minimalistisch. Er suchte für seine konstruierten Werke sowie für den durch diesen kreierten Raum Autonomie und Klarheit, eine rigoros demokratische Präsentation ohne kompositorische Hierarchie. „»Der einfache Ausdruck komplexen Denkens« – Donald Judd im texanischen Marfa“ weiterlesen

Der Fun der Ichlinge in Ischgl

Das Bergdorf Ischgl ist ein 1.500-Seelen-Ort im österreichischen Paznauntal. Erst Anfang der 1960-er Jahre – als Retrogarde der meisten ihrer Tiroler und Vorarlberger Nachbarn – beschlossen die Ischgler Bergbauern, sich nach lukrativen Einnahmequellen umzusehen. Sie legten 1963 ihre dürftigen Ersparnisse und viel geliehenes Geld zusammen und bauten die ersten Lifte auf der Livretta, nicht ahnend, dass damit eine spektakuläre Erfolgsgeschichte beginnen und ihre Kuhblöke ein paar Jahrzehnte später zu den wichtigsten Wintersportorten Österreichs mit elftausend Gästebetten und mehr als einer Million Übernachtungen im Jahr zählen würde. „Der Fun der Ichlinge in Ischgl“ weiterlesen

Die »Göttin der Beat-Generation« ruth weiss ist tot

ruth weiss kam 1928 in Berlin in einer jüdischen Familie zur Welt. Sie brachte sich 1933 mit ihren Eltern von dort vor den Nazis in Sicherheit und kam nach Wien, von wo sie 1938 neuerlich flüchten musste. Auf abenteuerliche Weise gelangte sie mit ihren Eltern über die Niederlande nach New York. In ihrem Buch Full Circle (edition exil) widmet sie sich ihrer Flucht aus Nazideutschland: »1938. 31. Dezember. der zug fährt in holland ein. unser tunnel durch die nacht. unser tunnel ins licht. der letzte hinaus gelassene zug.«

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»Zwischen dem Hier & dem Nicht-Hier bewege ich mich« – Zum Tod des »cut prose«-Schreibers Jürgen Ploog

von Jürgen Schneider

Jürgen Ploog wurde 1935 in München geboren. Nach einer Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker war er drei Jahrzehnte als Langstreckenpilot unterwegs und versuchte mit dem Schnittverfahren »Cut-up« den Viruscharakter des Wortes bloß zu stellen: »Das Wort sehen & betrachten, es zum Material machen wie der Maler Form oder Farbe behandelt, bis sie möglichst deckungsgleich seiner Vorstellung entsprechen.« 

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Fragmentarische Anmerkungen zur Compilation Befreiung

Vor einiger Zeit fragte mich Dirk Teschner, ob ich am 8. Mai 2020 bei der Telegraph-Feier anlässlich des 75. Jahrestages des Sieges der Roten Armee über die faschistischen Truppen Platten auflegen könnte. Mein Terminkalender sagte mir nein, da ich an jenem Tag in London sein sollte. Ich versprach Dirk jedoch, ihm eine CD zusammenzustellen. Nach Zusendung dieser CD bat er mich um ein paar erläuternde Anmerkungen. Diese gelten weniger der Musik als den von mir assoziierten politischen Ereignissen.  

Jürgen Schneider – Düsseldorf, Anfang April 2020

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Vor 90 Jahren besuchte James Joyce Wiesbaden

von Jürgen Schneider

AKT I
Im Wiesbadener Verlag Thorsten Reiß erschien 2005 mein BüchleinJames Joyce in Wiesbaden. Der Inhalt in aller Kürze: Der irische Schriftsteller James Joyce (1882-1941), seine Lebensgefährtin Nora Barnacle (1894-1951) sowie ihre gemeinsame Tochter Lucia (1907-1982) hielten sich vom 14. bis 21. April 1930 in Wiesbaden auf und wohnten im Hotel Rose. Die Goldenen Bücher des Hotels Rose durften nicht eingesehen werden. Der Verwalter dieser Gästebücher für Prominente teilte mit, Joyce habe es sich bekanntlich nicht leisten können, in diesem Hotel – heute Sitz des hessischen Ministerpräsidenten Bouffier – Zimmer zu bewohnen.

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L.I.T

Paris

Den New Yorker Dichter Steve Dalachinsky und seine japanische Frau, die Schriftstellerin und Künstlerin Yuko Otomo, zieht es seit langer Zeit immer wieder nach Frankreich, wo Dalachinsky 2014 mit dem Orden »Chevalier des Arts et des Lettres« ausgezeichnet wurde. Es zieht sie vor allem nach Paris, den Sehnsuchtsort amerikanischer Schriftsteller der 1920-er Jahre, aber auch in andere Städte, wie etwa Marseille: »i approach life as a self-centered madman / here in the city of artaud’s birth«.  Die Größen von einst sind präsent: »in the toilette / in front of gate 73 / Louis Armstrong sings & plays / i can’t see him but i know he’s here…« Diese Zeilen findet sich in Dalachinskys Gedichtband where night and day become one – the french poems 1983- 2017(Great Weather for Media, New York City, 2018). Über dieses Werk schrieb Gary May im französischen Improjazz Magazine (07- 08, 2018): »Steve Dalachinsky ist einer der großen ›Flaneure‹ unserer Zeit. (…) Steve ist ein Poet, ein wahrer Poet, und in diesen Zeiten der Tweets und Trumps ist es notwendiger denn je, den Poeten zuzuhören, denn wie Steves Freund Ted Joans konstatiert hat, ›hast du vom Dichter NICHTS zu befürchten, außer der WAHRHEIT‹. Dieses Buch enthält Seiten der Wahrheit, die ohne Mäßigung gelesen werden sollten.« Für Dalachinsky, so Valery Oisteanu im Sensitive Skin Magazine (Juli 2018) »sind Friedhöfe wie Père Lachaise ein Muss für die Hipster, die nach anzestraler oder ästhetischer kommunitärer Verbundenheit, nach Orten suchen, die nach toten Dichtern benannt sind.«

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Film: Inhale

(Foto: Uta Baatz)

Film: Inhale. Performance: John Giorno, concept and camera: Jürgen Schneider.
Limited Edition. With an introduction by Jürgen Schneider and poems by John Giorno.
Berlin: Hybriden Verlag, 2019 (in Vorbereitung)

(Foto: Uta Baatz)